Christ in der Gegenwart: Was ist Ihr Lieblingsort?
Christian Bauer: Mit meiner Frau bzw. guten Freund:innen und Flaschenbier irgendwo in der Abendsonne – zur Not auch an einer mehrspurigen Stadtautobahn: People make the place. Ansonsten das evangelische Kloster Schwanberg bei Würzburg, wohin ich jeden Sommer gehe, um den Kopf frei zu bekommen. Dort kann man durch ein Tor ins Land schauen, das wie eine grenzenlose Möglichkeit vor einem liegt – was mich immer wieder an den ‚Psalm meines Lebens‘ erinnert: „Er führte mich hinaus ins Weite“ (Psalm 18).
Woran forschen Sie gerade?
Daran, wie sich Kirche auf urbanen Konversionsflächen gerade selbst bekehrt. Daran, wie man das Konzilsdekret über die sozialen Kommunikationsmittel („Inter mirifica“) in einem digitalen Zeitalter neu lesen kann. Und daran, wie man der US-Bewegung „New Ressourcement“, das die französische Nouvelle théologie nur zur Hälfte rezipiert, die europäisch Alternative eines „New Aggiornamento“ entgegenstellen kann.
Meine aufregendste Bibelstelle …
Das ursprünglich offene Ende des Markusevangeliums (ein Beleg für die spirituelle Kraft der historisch-kritischen Exegese): „Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen“ (Mk 16,7). Es ist wie bei Monopoly („Gehen Sie zurück auf Los“). Erst im eigenständigen Gehen des Nachfolgewegs der anbrechenden Gottesherrschaft kann man wie die Jünger:innen von damals auch heute noch Erfahrungen der österlichen Präsenz Jesu machen. Das hat nicht nur spirituelle Tiefe, es bewegt sich auch auf dem Theorieniveau der Gegenwart.
Mein „Herzens“-Gebet …
„Ich steht vor Dir mit leeren Händen“ von Huub Oosterhuis, aber auch jahrhundertealte Gebete wie das Adoro te devote (in der Übertragung von 1947) oder das Veni sancte spiritus (in der Übertragung von 1971). Vor allem jedoch beim Joggen langsam ins Beten hinübergleiten. Der Horizont reißt auf und rückt für einen kurzen Moment alles in die Offenheit eines unendlich geheimnisvollen Anders-Du.
Was ist für Sie das drängendste theologische Problem der Gegenwart?
Angesichts der multiplen Gegenwartskrisen (Klimakatastrophe, Coronapandemie, Ukrainekrieg): die asymmetrische Tribalisierung der gesellschaftlichen, aber auch der kirchlichen Rechten. Dass es identitäre und autoritäre Feind:innen einer offenen Kirche und Gesellschaft gibt, mit denen man – auf synodalen Wegen und anderswo – nicht nur nicht einfach, sondern einfach nicht reden kann.
Welchen Atheisten schätzen Sie?
Friedrich Nietzsche (in seiner französischen Lesart). Er ist noch immer die wohl beste atheistische Herausforderung der Theologie. Um zu erfahren, wo jemand theologisch steht, muss man nur fragen, was sie oder er von Nietzsche hält. Generell bin ich der Überzeugung, dass der Atheismus (nicht nur der Nietzsches) in vielem recht hat. Und dass gute Theologie Religionskritik im Namen Gottes ist.
Wann waren Sie zuletzt im Kino? In welchem Film?
Fast schon peinlich: Barbie, auf Drängen meiner Familie („Feministischer Film! Auch intellektuell interessant!“). Generell stehe ich eher auf gutgemachten Hollywood-Mainstream wie Indepence Day, Top Gun oder Eine Frage der Ehre als auf kleine dänische Kurzfilme in Schwarzweiß.
Und im Theater?
Das ist leider schon so lange her, dass ich es gar nicht mehr weiß. Generell habe ich aber die (viel zu selten überprüfte!) Vermutung, dass im Theater relevante Antworten auf all jene existenziellen Fragen (nach Menschen und Mächten, nach dem Leben, der Liebe und dem kleinen Glück in dieser Zeit) zu finden sind, die auch mich als Theologe beschäftigen: Wovon leben wir eigentlich und wofür?
Wer ist Ihr Lieblingsdichter oder -schriftsteller?
Paul Celan, Nelly Sachs oder Rose Ausländer sprechen in der Gebrochenheit ihrer Poesie eine fast schon mystische Sprache – dekonstruiert von den krassesten Erfahrungen, denen Menschen überhaupt ausgesetzt sein können. Davon kann gerade auch christliche Theologie lernen in ihrem Versuch, auf dem Weg der Nachfolge Jesu von Gott als einem unendlichen Geheimnis der Welt zu sprechen, von dem man weder reden noch schweigen kann.
Welche Musik hören Sie gern?
Independent-Sachen der 1990er wie Greenday, Offspring oder Blink 182, aber gerne auch Beck und Sportfreunde Stiller und immer noch Nirvana („Smells like teen spirit“) – der Soundtrack meiner Jugend.
Welches nicht-theologische Buch lesen Sie zurzeit?
Schule des Südens des Berliner Kulturwissenschaftlers Onur Erdur, der hier die „kolonialen Wurzeln“ der sog. French Theory ans Licht bringt: Spätmoderne trifft Postkolonialismus. Westliche ‚Theoriestars‘ wie Jean-François Lyotard, Michel Foucault oder Jacques Derrida haben wesentliche Lektionen ihres Denkens nicht im Lichterglanz der Pariser Boulevards, sondern auf den staubigen Straßen des Maghreb gelernt.
Und welches theologische Werk?
Zum zweiten Mal Idiota de sapientia, den fiktiven Dialog eines (vermeintlich ungebildeten) einfachen Löffelschnitzers („idiota“) mit einem gelehrten Theologen. Geschrieben wurde er von dem spätmittelalterlichen Universalgenie Nikolaus von Kues (1401-1464) – einem großen und freien Geist, der als Schwellengestalt ‚zwischen den Zeiten‘ lebte und den es sich noch immer zu lesen lohnt!
Wer ist Ihr theologisches Vorbild?
Der französische Dominikaner M.-Dominique Chenu (nicht nur als Vordenker des Zweiten Vatikanums, sondern auch von Arbeiterpriestern und Befreiungstheologie), aber auch der deutsche Jesuit Karl Rahner – beide im Kontext unserer späten Moderne weitergedacht mit Michel de Certeau und John Caputo. Von den viel zu wenigen Frauen dieser theologischen Pioniergeneration: Nelle Morton.
Welcher Kirche gefällt Ihnen am besten?
Moderne Zeltkirchen aus Sichtbeton (als gebaute Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums), keinesfalls neugotische Bauten aus jener Zeit, als der Kirche auch theologisch nichts mehr Neues einfiel. Außerdem lichte französische Kathedralgotik (z. B. Reims) und verspielte fränkische Rokokokirchen (z. B. Vierzehnheiligen).
Was und wo war Ihr schönstes Gottesdiensterlebnis?
Die morgendlichen Osternachtsfeiern meiner Heimatgemeinde. Das Evangelium dort entdeckt zu haben – sonntags im Gottesdienst und werktags im Pfarrgemeinderat, bei der KJG und auf Zeltlager – war das Glück meines Lebens. Ohne diese Erfahrung hätte ich wohl nie Theologie studiert: Ich wollte hauptamtlich am Lagerfeuer sitzen und mit anderen auf den Anbruch eines neuen Tages warten.
Wovor haben Sie Angst?
Geliebte Menschen zu Grabe tragen zu müssen – und überhaupt: Abschiede.
Worauf freuen Sie sich?
Auf den nächsten Sommer. Mit meiner Tochter nach New York zu gehen. Auf den Sport heute Mittag und die Süddeutsche Zeitung heute Abend. Und auf das erste Bier im März vor der Innsbrucker Enzianhütte.