Nie wieder

Es ist eine Pflichtstation. Immer wenn ich mit einer Gruppe in meiner wunderbaren, südlich gestimmten Heimatstadt Würzburg bin, gehen wir nicht nur für einen Frankenwein auf die Alte Mainbrücke, sondern auch in einen Raum im Grafeneckart, dem ältesten Teil des Rathauses. Dort ist ein Modell der am 16. März 1945 – also: kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs – fast komplett zerstörten Altstadt zu sehen. Rauchgeschwärzte Ruinen, eine Stadt in Trümmern. Der 16. März 1945: die Urkatastrophe einer Stadt. Meiner Stadt.

Der Angriff der britischen Royal Air Force dauerte nur 20 Minuten und am Ende war die Würzburger Altstadt zu 90% zerstört. Zusammen mit Dresden gehört die Bischofs- und Universitätsstadt, in der Wilhelm Conrad Röntgen 1895 die nach ihm benannten Strahlen entdeckte, zu den am meisten zerstörten deutschen Städten. 256 Spreng- und über 300.000 Brandbomben entfachten einen orkanartigen Feuersturm mit Temperaturen von bis zu 2.000 °C, dem bis zu 5.000 Menschen zum Opfer fielen. Noch in 200 Kilometern Entfernung konnte man den Feuerschein der brennenden Stadt sehen. Nach dem Krieg gab es Pläne, Würzburg einige Kilometer entfernt wieder aufzubauen und die Ruinen („Grab am Main“) als ein Mahnmal gegen Krieg und Gewaltherrschaft zu konservieren.

Würzburg vor dem Krieg

Vor der Zerstörung galt Würzburg als eine der schönsten Städte des Alten Reiches. Drei romantisierende Stimmen aus der Zwischenkriegszeit, die nach dem 16. März 1945 noch einmal ganz anders klingen:

„Würzburg macht den Eindruck einer Gotik, die voll höchster Lebenslust ist. Die schiefen Gassen der Stadt liegen zwar völlig im Schatten der Kirchen und Erker, aber der Main ist so silberhell, dass er auch Licht in die schattigsten Winkel hineinbringt. Dazu leuchten die Rebenhügel […] über den Ufern und die Sonne blitzt durch die leichte Feuchtigkeit der alten Gassen […]. Der Weihrauch, der aus den Portalen der Kirchen und Kapellen dringt, vereinigt sich mit der Luft, die von den umblauten Weinbergen herunterweht. […] Besonders am Abend versinkt Würzburg unter den blauen Schatten der Dächer und Kirchen in einer zarten Luft von Frömmigkeit. […] Es liegt da mit dem ganzen katholischen Charme seines Wesens. Mit der Atmosphäre seiner Kirchen, seiner Gassen, seiner Madonnen […] ist Würzburg für das katholische Weltgefühl ein heiterer und schöner Spiegel.“ (Kasimir Edschmid, 1933).

Herrmann Hesse schreibt nach einem kurzen Aufenthalt:

„[Es] riecht hier überall froh und ahnungsvoll nach Brot und Käse, nach Wurst und Fischen […], aus offenen Ladentüren duftet es zart nach Kaffee und Tabak, aus offenen Kellertüren nach Fässern und Wein, aus offenen Kirchentüren nach Weihrauch – es geht hier nicht nordisch, protestantisch und abstrakt zu, sondern durchaus südlich, katholisch, wohltemperiert. Weder hungrige Askese herrscht hier noch gierige Vergnügungssucht, sondern harmonische Lebensfreude. […] Langsam durchwanderte ich die Gassen und Plätze […]. Gotische Kirchen langten mit dünnen eleganten Turmspitzen in den lichten Morgenhimmel, reiche schmucke Bürgerhäuser der alten Zeit standen am Weg, machten wohlhabende Gesichter und hielten sehr auf sich, über schattigen Brunnen turnten lebensfrohe, schwungvolle Gruppen von Barockfiguren ins Blaue hinauf. Und in mancher Gasse stand beinah über jeder Haustür […] irgendeine Muttergottes. […] In ihrem Schatten und Schutz lebte diese vergnügte Stadt, in ihrem frohen […] Schatten lebte und atmete auch ich einen sonnigen Reisetag lang.“ (Hermann Hesse, 1928).

Und eine dritte Stimme:

„Schön und offen bietet sich die Stadt von oben, von der Höhe der Festung […]. […] Würzburg ist fröhlich. Es gehört zu jenen Städten, deren bloßer Name die Vorstellung strahlender Heiterkeit erweckt und das Herz rascher schlagen lässt. Je heißer der Tag, je leuchtender die Sonne, je blauer der Himmel, je stärker die Kontraste von Licht und Schatten, desto feiner wird der farbige Eindruck. Dann […] wird uns bewusst, um wieviel südlicher Würzburg wirkt, als der Breitengrad erwarten ließe, an dem es liegt. […] Wer einmal in Würzburg war, der kommt von selbst immer wieder.“ (Josef Hofmiller, 1928).

All das endete am 16. März 1945 um 21.20 Uhr. Ein selbstentfesselter Feuersturm hat hier in Würzburg schlagartig die Alte Welt zerstört. Für immer.

Aufbruch der Nachkriegsmoderne

„Auferstanden aus Ruinen“ – nach dem 16. März 1945 hat diese Textzeile für Würzburg einen besonderen Klang. Kirchlicherseits galt angesichts der zerstörten Stadt der Ausspruch des damaligen Bischofs Julius Döpfner, der den Wiederaufbau des Domes zugunsten eines diözesanen Wohnungsbauwerks aufschob: „Wohnungsbau ist heute in Wahrheit Dombau“. In den Jahren nach dem Krieg wurde Würzburg in einem Stil wiederaufgebaut, den man in der Architekturtheorie ‚Nachkriegsmoderne‘ nennt. Gegen die tonnenschwere, steinlastige Neoklassik der Nazi-Bauten setzte man leichte und offene Bauten mit großen Fenstern, schlanken Säulen und weit auskragenden Flugdächern. Leuchtreklame in geschwungener Schrift statt ehernen Lettern.

Die nierenförmigen Kurven dieser „unbeschwerten Moderne“ waren das lebensfrohe Statement eines anderen, besseren Deutschlands: „Von der Tütenlampe bis zum Segeldach – Deutschlands Bauwelt swingte“ (Dieter Bartetzko). Man hungerte nach einer demokratischen Bauweise, nach einer neuen, beschwingten Architektur mit Licht und Luft und – Caterina Valente im Ohr – auch einer Prise Italiensehnsucht. In Würzburg gibt es zahlreiche Zeugen dieses Aufbruchs nachkriegsmoderner Architektur. Auch hier kam es zu einer (zumindest) architektonischen Neuerfindung der Stadt aus dem Geist der Bauhaus-Moderne, d.h. der Utopie eines neuen, demokratischen und weltoffenen Deutschlands (was jedoch zugleich auch in krassem Kontrast zum gesellschaftlichen Muff der Adenauerschen Restauration stand). Neben zahlreichen Würzburger Wohnhäusern sind vor allem zu nennen: 

  • der Hauptbahnhof (1952-1954) mit seiner klaren Kubatur, der großen Fensterwand, der markanten Uhr und den lichten Pavillons des Vorplatzes;
  • das Mozartgymnasium (1955-1957) mit seinen klaren Linien, grazilen Stützpfeilern und einer waghalsig geschwungenen Freitreppe;
  • der Blumenladen (1956) am Eingang des Hauptfriedhofs: großzügige Wandfenster, filigrane Tragepfeiler, ein elegantes Flugdach – und all das in unmittelbarer Nähe zum Massengrab für die Opfer des 16. März.
  • das Burkardushaus (1953-1954) des Bistums Würzburg mit seiner transparenten, lichtvoll-leichten Architektur kirchlicher Öffnung in den urbanen Raum hinein (und mit einer sehenswerten Treppenspindel).
  • und populäre Freizeiteinrichtungen wie das Kino Corso (1954), das Café Mozart (1956) oder das noch immer existierende Dallenbergbad (1956).

In dieser Stadt wurde ich also 1973 geboren – mitten hinein in die poppig-progressive Emanzipationslust der 1970er Jahre, die nach der kulturellen Wasserscheide von 1968 zugleich kritische Fragen an die Elterngeneration stellte. Minirock und Schlaghose treffen Ekel Alfred. Eine negative Konstante der nun folgenden geografischen Ortswechsel meines bisherigen Lebens ist ein durchgängiger Bezug zu den ‚tausend deutschen Jahren‘ zwischen 1933 und 1945 (und zu deren rechtsradikaler Verlängerung). Als sich durchziehende Erinnerungsspur prägen diese auf untergründige Weise nicht nur die Stationen meines Lebens, sondern auch die Themen meiner Theologie. Ihre dunkle Spur konnte verschiedene Formen annehmen – präsent war sie eigentlich immer. Selbst während eines vom Cusanuswerk ermöglichten Studienaufenthalts in Indien im Jahr 2000 bin ich auf die Problematik rechtsfaschistischen Gedankenguts gestoßen – in sprachlos hinterlassenden Begegnungen mit Hindus aus höheren Kasten, die nicht nur stolz auf ihre ‚arische’ Abstammung hinweisen, sondern auch darauf, dass in ganz normalen indischen Buchhandlungen Hitlers Mein Kampf zu finden sei (ich habe das selbst gesehen): „Sie sind Deutscher – dann sind Sie doch sicher auch stolz, ein Arier zu sein?“

Ein durchgängiges Lebensthema

Begonnen hat alles in Würzburg, wo ich aufgewachsen bin und auch die meiste Zeit studiert habe. Von meiner Oma, die im Rathaus von Gerbrunn, eines Winzer- und Bauerndorfes am Stadtrand von Würzburg gearbeitet hatte, hörte ich Geschichten wie jene von dem furchtbaren Ärger, den sie bekam, als der damalige Nazi-Bürgermeister dahinter kam, dass sie immer wieder Besucher:innen des Rathauses mit dem Finger warnte, nicht so laut zu sprechen, wenn diese sagten, wie sie wirklich über den Bürgermeister dachten. Nach dem 16. März hat mein Urgroßvater dann eine ‚ausgebombte‘ Würzburger Bürgerfamilie bei sich aufgenommen, zu der nach dem Krieg ein freundschaftliches Verhältnis blieb. Als er im Mai 1945 das Dorf dann den anrückenden US-Amerikanern übergeben wollte, sollte er von Nazis erschossen werden – die Befreier kamen dem jedoch zuvor und machten ihn zum neuen Bürgermeister.

Die gesellschaftliche Nachgeschichte des Nationalsozialismus (d.h. heutige Formen des Faschismus) beschäftigt mich seit meiner Jugend. Ich habe als Jugendlicher nicht nur die Ausgabe von Geschichte mit Pfiff über den Alltag im ‚Dritten Reich‘ („Unter dem Hakenkreuz“) verschlungen, sondern auch Jugendbücher wie Die Welle (über das bekannte, aus dem Ruder gelaufene US-Schulexperiment) oder Mord am Altar (über die Ermordung Erzbischof Oscar Romeros durch rechte Todesschwadrone). Mein erstes Referat im Leistungskurs Sozialkunde-Geschichte handelte von Faschismustheorien, im Wahlkurs Psychologie beschäftigte ich mich mit dem Milgram-Experiment (bei dem es um autoritäre Verhaltensmuster geht). Die Fahrt nach Buchenwald („Arbeit macht frei“) war ein schulischer Pflichttermin. Next door: Weimarer Klassik. Und in meiner Abiturrede (1993) warnte ich vor rechten Biedermännern, die sich als gefährliche Brandstifter entpuppen. Es war die Zeit der Brandanschläge und der Lichterketten.

Während des Studiums habe ich mich dann immer wieder für Theolog:innen interessiert, die gegen jede Art von faschistisch-rechtsextremem Denken standen: vor allem Dietrich Bonhoeffer, der im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sein Leben ließ. Aber auch für Vertreter:innen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die unter den rechten Militärdiktaturen der 1960er bis 1980er Jahre entstand – bis hin zum Martyrium der 1991 ermordeten Jesuiten von El Salvador (deren Todesanzeige aus der „Main Post“ ich noch immer in Ehren halte). Später interessierte ich mich dann auch für christlich-muslimische Dialogpioniee wie Christian de Chergé und die anderen Trappisten von Tibhirine oder den Dominikanerbischof Pierre Claverie, die zum Beginn der 1990er Jahre in Algerien dem politischen Extremismus von Islamisten zum Opfer fielen (auf einer Radtour nach Marokko erfuhren wir dort von der Ermordung der Trappisten). Hitlerdeutschland, Lateinamerika, Nordafrika – an all diesen Orten kann Johann B. Metz zufolge der alte Satz, demzufolge das Blut der Märtyrer:innen der Same der Kirche sei, als ein „Kriterium dafür gelten, wo heute die Kirche und das Christentum in besonders verheißungsvoller Weise lebendig ist“.

Von Würzburg aus ging es nach dem Studium dann in den wilden Osten von Berlin, wo ich ein theologisches Start-up-Unternehmen des Dominikanerordens („Chenu-Institut“) mit aufgebaut habe. Dort gibt es die Leere Bibliothek, einen vor der Humboldt-Universität in den Boden eingelassenen Gedächtnisort (für mich eines der eindrucksvollsten Denkmäler überhaupt), der an die Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten erinnert: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ (Heinrich Heine). Während meiner Berliner Zeit verbrachte ich auch (in Summe) fast ein Jahr mit Archivarbeiten für meine Doktorarbeit in Paris. Diese waren dem ‚linkskatholischen‘ französischen Dominikaner M.-Dominique Chenu (1895-1990) gewidmet, der nicht nur als ein führender Kopf der reformtheologischen Nouvelle théologie vor dem Zweiten Vatikanum gilt(die mit Yves de Montcheuil einen Märtyrer des Widerstands gegen die Nationalsozialisten hervorbrachte), sondern auch selbst in die Résistance involviert war – und der nach dem Konzil zum „Großvater“ (Gustavo Gutièrrez) der Theologie der Befreiung wurde.

Während meiner Pariser Archivarbeiten unternahm ich anlässlich des sechzigsten Jahrestages der Landung der Alliierten auch eine pèlerinage de la réconciliation, zu der mich ein fast achtzigjähriger Dominikaner und mit seiner beinahe ebenso alten Ente in die Normandie einlud. Schweigend standen wir am Strand von Saint-Laurent-sur-Mer und legten zwei Rosen nieder: er eine Rose am Grab eines deutschen Soldaten, ich eine am Grab eines französischen Soldaten. Unsere heutige Freiheit wurde 1944 an diesen Stränden errungen. Niemals war mir das so bewusst wie in jenem Juni 2004, als ich selbst im feinen Sand von ‚Omaha-Beach‘ stand. Als Erinnerung daran habe ich mir ein kleines Filmdöschen mit Sand mitgenommen, den ich seither wie eine Reliquie verwahre. Er steht in Sichtweite meines Schreibtischs und mahnt mich, nichts Gutes für historisch schattenfrei oder gar selbstverständlich zu halten.

Von Berlin aus bin ich dann zu meiner heutigen Frau nach Nürnberg gezogen, in Hitlers mittelalterliches ‚Schatzkästlein’, wo sich auch das durch gezielt banalisierende Freizeitnutzung (und ein exzellentes Dokumentationszentrum) in seiner architektonischen Macht gebrochene Reichsparteitagsgelände der Nationalsozialisten befindet. Von Nürnberg aus pendelte ich dann nicht nur regelmäßig nach Tübingen zu meiner Assistentenstelle bei Ottmar Fuchs, einem der Vertreter einer „Theologie nach Auschwitz“ – ich unternahm ich mit meiner alten Gerbrunner KJG-Gruppe auch 2004 eine Exposurereise nach Kambodscha. Dort sprachen wir unter anderem mit jungen Kambodschaner:innen darüber, was es heißt, in einer postgenozidalen Gesellschaft zu leben. Tief beeindruckt haben uns die Killing fields und das Tuol Sleng-Museum in Phnom Penh, wo unter der Schreckensherrschaft der (in diesem Fall linksextremen) Roten Khmer tausende Menschen gefoltert und ermordet wurden.

Mit Nürnberg ist aber auch ein diesbezüglich positives Erlebnis verbunden. Während des deutschen ‚Märchensommers’ 2006 hatte ich Karten für das WM-Spiel Mexiko gegen Iran. Ein ausgelassen feiernder Strom mexikanischer Fans riss mich mit auf dem Weg in das Frankenstadion. Und zwar auf ‚verbranntem’ Boden – nämlich auf genau jener ‚Großen Straße’ der Nationalsozialisten, die noch heute eine Sichtachse zwischen Nürnberger Kaiserburg und Reichsparteitagsgelände bildet. Samba auf der ‚Nazistraße’, das hieß für mich: Wir dürfen Deutschlands dunkle Vergangenheit nicht vergessen, aber wir können uns auch dazu verhalten. Und manchmal sogar mit Mexikaner:innen und Iranis dort tanzen, wo einst Nazikolonnen in den Untergang marschiert sind.

Auch nach unserem Umzug nach Innsbruck, wohin ich 2012 berufen wurde, blieb die Erinnerung an die dunkle Vergangenheit meines Heimat- und Gastlandes eine biografische Konstante. Auf dem Christoph-Probst-Platz vor dem Hauptgebäude der Universität erinnert ein Ehrenmal nicht nur an die erwähnten Jesuitenmärtyrer von El Salvador, die hier studiert haben, sondern auch den Medizinstudenten Christoph Probst von der Weißen Rose, der hier ebenfalls studierte. Spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten bzw. der Beinahe-Wahl des FPÖ-Kandidaten Hofer zum österreichischen Bundepräsidenten 2016 beschäftigt der aktuelle Rechtsextremismus und seine populistische Variante mich auch fachlich in expliziter Weise. Ich finde: Wir sollten auch in der Theologie viel mehr Bücher wie Karl Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945), Theodor W. Adornos Studien zum autoritären Charakter (1950) oder Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) lesen – und zwar nicht nur mit Blick auf den rechten Rand der Gesellschaft, sondern auch auf den ‚rechtskatholischen‘ Kirchenrand.

Ich habe dazu nicht nur zahlreiche Artikel verfasst, sondern der Thematik auch 2017 meinen Grazer Habilitationsvortrag („Heimat in einer offenen Welt? Rechtspopulismus als theologische Herausforderung“) gewidmet und im selben Jahr zusammen mit dem Ethnologen Gilles Reckinger ein fakultätsübergreifendes Seminar („Rechtspopulismus und neue Rechte in Innsbruck“) gehalten, für das wir 2018 den Lehreplus-Preis der Universität Innsbruck erhielten. Im Vorfeld dieses ethnografisch-theologischen Seminars sondierten wir unter anderem das Feld der sog. Identitären (= rechtsextreme Hipster, die einen rassistischen ‚Ethnopluralismus‘ vertreten), die sich zu dieser Zeit unter konspirativen Bedingungen in einer Tiroler Traditionsgaststätte trafen. Aber ich wurde zusammen mit meiner Frau auch direkt politisch aktiv: 2017 gründeten wir zusammen mit anderen Aktivist:innen einen Innsbrucker Ableger von Pulse of Europe als zivilgesellschaftlichen Alternative zur rechtspopulistischen Welle in Europa. Keine Frage, dass wir heute auch beim Innsbrucker Lichtermeer nicht fehlen können. Seit meinem akademischen Wechsel nach Münster stelle ich mir die Frage, wohin die Metz’sche Neue Politische Theologie heute weiterzuentwickeln wäre – intergenerationell herausgefordert durch die ‚Vorwissenschaftliche Arbeit‘ meines Sohnes über „Antonio Gramsci und die Neue Rechte“: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ (Antonio Gramsci).

Etwas Gefährliches tun?

Ich stamme aus einem Land, von dessen Boden die wohl monströsesten Ereignisse ausgingen, die diese Welt je gesehen hat. Auschwitz. Teblinka. Majdanek. Buchenwald. Mauthausen. Alles Namen, bei denen es einem noch immer kalt den Rücken herunterläuft. Namen aus der Hölle des Übermenschen. Doch wo das Böse derart monströsen Ausmaße annimmt, dort wächst das Rettende auch. Das Rettende im Fall des Nationalsozialismus hatte Namen und Gesichter. Es waren junge Menschen aus Virginia, Utah oder Wyoming, die an Orten für die Befreiung Europas kämpften, deren für sie unaussprechliche Namen sie noch nie gehört hatten. Sie gelten in den USA noch immer als the greatest generation. Wer einmal die grandiosen ersten zwanzig Minuten des Films Saving Private Ryan gesehen hat, gewinnt einen (schwachen) Eindruck von dem, was es für diese Soldat:innen bedeutet haben muss, im Kugelhagel des deutschen Sperrfeuers an einem anderen Ende der Welt für die Sache der Freiheit einzutreten.

In der Nähe meines Schreibtischs hing lange ein vergilbter Zeitungsausschnitt mit dem Foto der Weißen Rose am Münchner Ostbahnhof. Eine Erinnerung an den außergewöhnlichen, für alle Zeiten beispielhaften Mut dieser jungen Leute. Es zeigt eine hübsche junge Frau und zwei junge Männer, die mit ihren Uniformen aussehen, wie auch ich damals wohl ausgesehen hätte. Der Blick auf dieses Bild erfüllte mich jedes Mal mit Dankbarkeit dafür, dass es in ‚meinem Land‘ damals auch solche Menschen gab und nicht nur Massenmörder und Mitläufer. Und auch mit Dankbarkeit, bisher selbst noch nicht auf eine vergleichbare Probe gestellt worden zu sein. Denn ich weiß ja nicht, ob ich damals auf der richtigen Seite gestanden wäre. Möglicherweise hätten die Nazis mich an meinem jugendlichen Idealismus gepackt und mit ihren Zeltlagern und Fackelzügen zunächst einmal begeistert. Ich werde nie vergessen, welch nachhaltiges Unbehagen mich beschlichen hat, als ich auf dem Dresdner Katholikentag 1994 an einem Fackelzug teilgenommen habe (während sich eine indischstämmige Freundin in unserem Quartier denkbar unwohl fühlte).

Bilder wie dieses oder auch die Dose mit dem Sand aus der Normandie halten in meiner alltäglichen Lebenswelt die Frage wach, was meine ganze theologische Theoriearbeit denn wirklich zu einer besseren Welt beiträgt – zur Verteidigung einer offenen und freien demokratischen Gesellschaft angesichts ihrer rechtsradikalen Feind:innen. Eine beunruhigende Frage, mit der ich noch überhaupt nicht fertig bin. Und wohl auch nie fertig sein werde. Denn bei aller existentiellen Rechtfertigung meines Tuns bleibt ein Stachel. Ein gut sitzender Stachel, der mich immer wieder an den Satz von Karl Marx erinnert, der am Treppenaufgang im Hauptgebäude der Berliner Humboldt-Universität zu lesen ist (und zu dem es mich immer wieder hingezogen hat): „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Astrid Lindgren formulierte die bleibende Herausforderung in Brüder Löwenherz – einem wunderbaren Buch über den Widerstand gegen das Terrorregime im Dornrosental, in dem sie ihre Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus verarbeitete – in meinem Geburtsjahr 1973 folgendermaßen: „Manchmal muss man etwas Gefährliches tun, weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck.“

Beitragsbild: Wolfgang Lenz

Bilder Burkhardushaus: Burkhardushaus

Bild Café Mozart: wuerzburg-fotos.de

Bilder Mozart-Gymasium: Rettet das MOZ