Wintersonnenwende

Feld bei Sonnenuntergang

Ich bin ein sonnenhungriger Mensch. Der Sommer ist auch für mich die „natürliche, die eigentlich normale Jahreszeit, so, wie es immer sein sollte, aber in unseren Breiten halt nur für ein paar Monate ist“ (Rainer Bucher). Alles andere ist existenziell begründungspflichtig. Deshalb ist das Schönste an Weihnachten für mich auch, dass die Tage von nun an wieder länger werden. Sukzessive: Mehr Licht. Irgendwann kann man dann wieder ohne Jacke aus dem Haus gehen – der beste Tag im Jahr!

Also: Wintersonnenwende. Deswegen haben die frühen Christ:innen ihr Weihnachtsfest auch auf das ursprünglich heidnische Wintersonnenwendfest des Sol invictus gelegt, des römischen Sonnengottes. Jesus – der Christus – ist „der Zeiten Lot und Wende“, wie es in einem Hymnus des Stundengebetes heißt.

Oder mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gesprochen:

„Der Herr ist der Zielpunkt der menschlichen Geschichte, auf den hin alle Bestrebungen von Geschichte und Kultur konvergieren, der Mittelpunkt der Menschheit, die Freude aller Herzen und die Erfüllung ihrer Sehnsüchte.“

(GS 45).

Hymnus des Stundengebets

Mitten in der kalten und grauen Jahreszeit bin ich vor einigen Tagen über einen weiteren, adventlichen Hymnus des Stundengebetes gestolpert, der Jesus, den Christus als den aufgehenden Morgenstern besingt:

„Hört, eine helle Stimme ruft
und dringt durch Nacht und Finsternis:
Wacht auf und lasset Traum und Schlaf –
am Himmel leuchtet Christus auf.

Dies ist der Hoffnung lichte Zeit;
der Morgen kommt, der Tag bricht an:
Ein neuer Stern geht strahlend auf,
vor dessen Schein das Dunkel flieht.“

Christus als die Sonne des Lebens. Kein Stern wie jeder andere, mehr als ‚nur‘ irgendein Orientierungspunkt am Firmament. Er scheint jeder und jedem ganz persönlich ins Herz und transformiert so – letzten Endes – auch die ganze Welt. Aber nicht nur er leuchtet. Ich muss an die „Lichterlehre“ Karl Barths denken, mit der ich mich gerade beschäftige. Ihr zufolge gibt es in der geschaffenen Welt auch noch andere Lichter als Christus. Denn Gott selbst in seinem unendlichen Geheimnis ist der „Vater der Lichter“ (Nikolaus von Kues). Das wiederum führt mich auf die konzilstheologische Spur der Frage nach der Zukunft des christlich gelebten Evangeliums hierzulande und anderswo.

Viele Lichter leuchten

Die folgende Zeichnung stammt aus einem italienischen Jugendbuch zur Kirchengeschichte. Ich zeige sie gerne, wenn es um die Kirche von morgen geht. Eine kleine christliche Gemeinde versammelt sich, wie in den frühesten Zeiten der Jesusbewegung, in einer hell erleuchteten Wohnung zum Herrenmahl. Draußen – in den anderen Mietshäusern, die mich an das römische Stadtviertel am Monte Mario erinnern, das ich sehr liebgewonnen habe – leuchten auch Lichter. Für sie gilt ebenfalls Reinhard Meys wunderbare Liedzeile „… dass man von draußen meint, dass in ihren Häusern das Licht wärmer scheint“:

Viele Lichter leuchten hier. Sind sie alle ein Widerschein jenes „Glanzes Christi“ (LG 1), von dem Lumen gentium (die erste Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums), spricht, wenn sie Jesus, den Christus – und nicht (wie in einem früheren Textentwurf stand) die Kirche – als das heilsuniversal entgrenzte „Licht der Völker“ bezeugt? Viele Lichter leuchten: das lehrt in Bezug auf theologische Erkenntnisorte der „Zeichen der Zeit“ (GS 4) auch Gaudium et spes (die zweite Kirchenkonstitution des Konzils). Sie spricht nicht nur vom „Licht des Evangeliums“ (GS 4), sondern auch vom „Licht der menschlichen Erfahrung“ (GS 46). Evangelium (= gedeutete Erfahrung von gestern) und Erfahrung (= gelebtes Evangelium von heute) klären Kirche auf: Beide Lichter leuchten und weisen ihr den Weg in die Zukunft.

Im Licht der späten Moderne

Der Jesuit Michel de Certeau, einer der originellsten Theologen unserer Zeit, hat den reformerischen Aufbruch des Zweiten Vatikanums in das abendliche Licht des „Sonnenuntergangs“ einer bestimmten kirchlichen Sozialform gerückt. Zugleich machte er aber auch Hoffnung auf eine ganz neue Vielfalt von Wegen christlicher Nachfolge Jesu in einer „noch nicht gewussten Kirche“ (Elke Langhammer). In diesem Zusammenhang erinnerte er auch an körperspirituelle Praktiken frühchristlicher Wüstenmönche, deren geistliche Erfahrung sich im erwähnten Hymnus des Stundengebets wiederfindet:

„Sie verbrachten die ganze Nacht aufrecht stehend in einer Haltung der Erwartung. Mit zum Himmel erhobenen Händen wandten sie […] jenem Punkt am Horizont zu, an dem morgens die Sonne aufgehen würde. Die ganze Nacht hindurch erwarteten ihre ‚Körper der Sehnsucht’ den Aufgang des Tages. […] Sobald am Morgen die ersten Sonnenstrahlen ihre Handflächen erreichte, durften sie innehalten und ausruhen. Die Sonne war aufgegangen. […] Unser ganzes Sein ist Erwartung. Was uns erreicht, ist exakt jener Strahl, der beginnend mit dem Berühren der Handflächen nach und nach die gesamte Landschaft verändert. Er lässt uns wissen, dass die Sonne kommt – etwas anderes als das, was die Nacht uns davon zu wissen gestattet.“

Wenn an einem Wintertag die ersten Sonnenstrahlen auf den Bergspitzen über Innsbruck zu sehen sind, muss ich oft an ein eschatologisches Diktum Karl Rahners denken, dessen Tiroler Lokalkolorit noch immer durchscheint: „Das Morgenlicht auf den Bergen ist der Beginn des Tages in den Tälern.“ Aber auch eine Kirche der hoffenden Erwartung eines neuen Morgens für sich und die Welt bleibt eine Kirche im Modus des dauerhaften Advents – auch nach Weihnachten. Denn selbst wenn die Tage wieder länger werden, kommt doch irgendwann nach jeder Wintersonnenwende auch wieder eine Sommersonnenwende.

… auch bei Nebel

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?“ (Ps 121,1). Angesichts einer zunehmend taumelnden Welt bleibt letztlich nur die durchgetragene Hoffnung initiativ tätiger Erwartung: „Wacht auf, Harfen und Saitenspiel, ich will das Morgenrot wecken.“ (Ps 108,3). Wenn sich eine bisweilen allzu hoffnungsfroh gestimmte Kirche jeden Morgen auf ein Neues zum Gebet ausrichtet, dann sollte sie dabei unbedingt auch die folgenden Zeilen des biblisch inspirierten Dichterpfarrers Wilhelm Bruners beherzigen, die als alltagspräsente Selbsterinnerung auch in mein Stundenbuch eingelegt sind:

Verabschiede die Nacht
mit dem Sonnenhymnus
auch bei Nebel

hol dir die ersten
Informationen aus den
Liedern Davids
dann höre die
Nachrichten und lies
die Zeitung

beachte die Reihenfolge
wenn du die Kraft
behalten willst
die Verhältnisse zu ändern