Wickie

Ein Handy klingelt im überfüllten Zug. Ein bezwingender Rhythmus. Meine Sitznachbarin und ich wechseln einen kurzen Blick. Ein wissendes Lächeln: Wickie. Und dann ertönt mitten im ICE tatsächlich unüberhörbar „Hey hey Wickie, hey Wickie hey, zieh fest das Segel ahaan…“

Man glaubt es kaum: Seit wenigen Tagen ist dieser kleine Wi(c)kinger nun auch schon fünfzig Jahre alt. So wie Alexandra und ich seit letztem Jahr. In der „Generation Golf“ (Florian Illies) bzw. „Golf und Gotteslob“ (Christiane Florin) ist man mit ihm aufgewachsen. Mit der bekannten Titelmelodie (gesungen von den späteren „Bläck Fööss“). Mit seinen spannenden, oft auch lustigen Abenteuern. Und mit seiner charakteristischen Geste des Nasereibens kurz bevor es Sternchen regnet, weil er eine zündende Idee hat.

Flake war auch unser Dorf.

In einer meiner Lieblingsgeschichten färbt Wickie mit seinen Freund:innen Holzschwerter mit Blaubeersaft zu blitzenden Klingen und befreit damit die von rotäugigen Riesen gefangenen Männer des Dorfes. Ein andermal befreit Wickie (meine Frau dachte übrigens lange, er sei ein Mädchen) sich selbst und die anderen Wikinger – während sich von oben eine Zackendecke gefährlich herabsenkt – mithilfe eines Sägezahnfischs aus einem Kerker. Immer aber hatte er als Kleinster und Schwächster die rettende Idee.

Popkultureller Nonkonformismus

„Wickie und die starken Männer“ gehörte – wie auch „Sindbad“ (1975), „Biene Maja“ (1975) und die Geschichtsserie „Es war einmal ein Mensch“ (1978) – zu meinen absoluten Lieblings-Zeichentrickserien. Sie zusammen mit den eigenen Kindern als Erwachsener wiederzusehen, war eine schöne Erfahrung. Weniger gern mochte ich übriges die für mein Empfinden eher traurigen, melancholisch gestimmten Serien „Heidi“ (1974), „Pinocchio“ (1976) und „Nils Holgersson“ (1980) – sie erinnern mich noch heute an muffig-bleierne Samstags-baden-Kleine-Welt-Tristesse.

Wickie, Sindbad, Biene Maja, Heidi, Pinocchio und Nils Holgersson sind nicht nur durch starke Titelsongs miteinander verbunden, deren Melodie ins Ohr gehen und im Kopf bleiben, sondern auch als japanische Anime-Serien(ko)produktionen. In der poppigen Ästhetik der „entfesselten“ (Jens Balzer) 1970er Jahre haben mir vor allem die beiden ersten faszinierend abenteuerliche (Traum-)Welten erschlossen.

Ist das alles sentimentaler Eskapismus der älter werdenden Generation X?

Sicherlich auch. Aber nicht nur. Denn Wickie steht für etwas, das man auch in den Krisen unserer Zeit gut brauchen kann. Für Köpfchen und für Herz und Mut. Für die Stärke der Kleinen. Für Freundschaft und Tapferkeit. Und für den fröhlichen popkulturellen Nonkonformismus der 1970er Jahre. Damit erinnert er an eine andere, allerdings schon deutlich ältere Skandinavierin: Pippi Langstrumpf. Sie und der ebenfalls in Schweden erfundene Wickie sind unbekümmert-anarchische Geschwister. Und sie gehören zur Familie.

Bilder: Aus dem Buch „Wickie. Die neuesten Abenteuer“ (München 1979).