Johannes Hartl hat auf Communio.de über den überraschenden aktuellen ‚Taufboom‘ in Frankreich geschrieben (vgl. dazu kritisch einordnend Achtung vor geistlichem Missbrauch sowie Die hippen Missionare), der mir auch durch eigene französische Kontakte immer wieder bestätigt wird. Es lohnt sich, dazu auch die Stimme von Kardinal Jean-Marc Aveline zu hören, der nicht nur Erzbischof von Marseille und Vorsitzender der Bischofskonferenz ist, sondern auch einer der Endredaktor:innen des Schlussdokuments der jüngsten Weltsynode war und als einer der Papabile des letzten Konklaves galt (mein persönlicher Wunschkandidat).
Jean-Marc Aveline ist ein theologisch brillanter Kopf. Er wurde in Algerien geboren und seine jesusbewegt-konzilsinspirierte, daher kontextsensibel-reformbereite Pastoral ist von Jean Arnaud geprägt, einem Straßenpriester in den Armenvierteln von Marseille: Kirchenväter treffen Quartierspastoral (vgl. Jean Arnaud, un théologien de quartier à Marseille). Aveline steht für eine Theologie des Mittelmeers (vgl. Der Mittelmeeraum als Theologie-Laboratorium ), die an dessen „fünf Ufern“ (Papst Franziskus, 2023 in Marseille) die drei großen Weltreligionen in einen geschwisterlichen Friedensdialog verwickelt: „Ausgehend vom Verständnis des Wortes Gottes in seinem ursprünglichen mediterranen Kontext ist es möglich, die Zeichen der Zeit in neuen Kontexten zu erkennen.“
Kardinal Aveline hat auch die französischen Zeichen der Zeit erkannt. Und er weiß sie auch für unseren hiesigen pastoralen Kontext theologisch weiterführend zu deuten. Zur bemerkenswerten Zunahme der Taufen junger Menschen in Frankreich sagte er einige auch in Deutschland höchst relevante Dinge – sind uns die linksrheinischen Glaubensgeschwister doch in vielen Entwicklungen um einiges voraus. Viele institutionelle Mauern sind dort seit Generationen eingestürzt, die wir noch mit enormem Kraftaufwand aufrechterhalten („Aus der deutschen Kirche kann man austreten, in die französische muss man überhaupt erst einmal eintreten.“).
Am 16. September 2025 sagte er in einem Interview mit La Croix (vgl. La vision du cardinal Aveline pour l’Église de France), diese neuen Katholik:innen entdeckten „Christus, kennen aber die Kirche noch nicht“ – ganz anders als eine ältere Generation, die „in der Kirche aufgewachsen ist, bevor sie Christus persönlich entdeckt hat“. Zur Eröffnung der letzten Vollversammlung der französischen Bischofskonferenz (vgl. Discours d’ouverture de l’Assemblée plénière) warnte er zugleich sehr eindringlich davor, ihren Wunsch nach christlicher Identität rechtsextremen identitären Tendenzen in Kirche und Gesellschaft zu überlassen:
„Die Sehnsucht nach Identität ist völlig legitim, doch ein identitärer Extremismus ist eine gefährliche Karikatur dessen. Wie wir in unserer pastoralen Arbeit und insbesondere bei der Aufnahme von Katechumenen erleben, beschäftigt diese Sehnsucht nach Identität viele junge Menschen, und wir müssen sie positiv betrachten, verstehen und fördern, damit sie nicht als Alibi für gefährliche identitäre Verkrampfungen missbraucht wird. Die Herausforderung ist groß und komplex und zwingt uns, aufmerksam zuzuhören, was sich in diesen Sehnsüchten ausdrückt, um sie für die Neuheit Christi, die Freiheit des Evangeliums und die Katholizität der Kirche zu öffnen. Nicht auf das hören zu wollen, was der Heilige Geist uns durch den Durst dieser jungen Menschen ins Ohr flüstert, würde bedeuten, uns selbst von der Tradition zu entfernen, denn diese ist lebendig. Aber die Wünsche dieser jungen Menschen am Rande der kirchlichen Gemeinschaft entfalten zu lassen, würde das Wachstum ihres Glaubens gefährden, denn dieser beruht auf der apostolischen Nachfolge.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.

