Rolf Zerfaß wäre heute 90 Jahre alt geworden. Er war nicht nur einer der bedeutendsten Pastoraltheologen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, sondern auch einer meiner wichtigsten theologischen Lehrer. Er hat das Fach geprägt wie kaum ein anderer römisch-katholischer Pastoraltheologe im 20. Jahrhundert. Seine Bücher Menschliche Seelsorge, Grundkurs Predigt und Lebensnerv Caritas waren Besteller, sein „Handlungstheoretischer Regelkreis“ (1974) darf in keiner Einführungsvorlesung fehlen. Selbst seine frühen Texte haben noch immer eine erstaunliche Frische. In dieser klingt nicht nur – ebenso kraftvoll wie leichtfüßig – der originale Rolf-Zerfaß-Sound hindurch, sie sind auch eine bleibend inspirierende Erinnerung an die Zukunft von Theologie und Kirche.
Während des Studiums
Ich verdanke Rolf Zerfaß sehr viel. Als ich mich während des Studiums in Würzburg aus fundamentaltheologischen Gründen der Pastoraltheologie zuwandte, begeisterte er mich nachhaltig für dieses Fach. Ich habe nicht nur alle seine Vorlesungen gehört, sondern auch Seminare zu den Themen „Methoden und Ansätze der Pastoraltheologie“ (inklusive evangelischer Autoren), „Selbsthilfegruppen“ (mit aktivem Feldkontakt) und „Biographie und Lebenswelt als Orte theologischer Kreativität“ (sein letztes Seminar) besucht – und natürlich auch den homiletischen Grund- und Aufbaukurs, bei dem ich meine spätere Frau näher kennenlernte (typisch sein Kommentar zu unserem Hochzeitsgeschenk: „Für die Anbahnung ehelicher Friedensverhandlungen“).
Rolf konnte bisweilen auch recht kompliziert sein. So hatte er einmal während eines Seminars eine Studentin sehr ungerecht behandelt – was ich in der abschließenden ‚Blitzlichtrunde‘, die für ihn stets zur Kultur eines prozesssensiblen wissenschaftlichen Arbeitens gehörte, dann auch offen ansprach. Es spricht aus meiner Sicht jedoch sehr für ihn, dass er mich trotz (oder wegen?) dieser Kritik dann irgendwann fragte, ob ich nicht studentischer Mitarbeiter bei ihm werden möchte. Am Ende meines Studiums habe ich schließlich meine Diplomarbeit bei ihm geschrieben, ehe er mich für die Promotion an seinen Schüler und Freund Ottmar Fuchs weiterreichte.
Rolf-Zerfaß-Archiv Münster
Meinen weiteren Weg hat Rolf stets mit großer Aufmerksamkeit und kritischem Wohlwollen verfolgt. Einen solchen Mentor kann man sich nur wünschen. Seine Gutachten ebneten mir nicht nur den Weg in das Cusanuswerk, während meiner Promotion hat er mich in Paris besucht und mir im Musée d’Orsay die Impressionisten erschlossen. Es freute mich sehr, dass er 2013 mit Johanna Röhrig zu meiner Antrittsvorlesung nach Innsbruck kam. Als sich seine voranschreitende Erkrankung bemerkbar machte, schenkte er mir nicht nur seine Bücher – er vertraute mir auch seinen Nachlass an, den ich nun auf einer eigenen Website in digitaler Form zugänglich mache.
Sie ist in Münster verortet: an meiner neuen Universität, nachdem ich im vergangenen Jahr (zufällig und ungeplant) auf Rolfs Spuren aus Innsbruck dorthin gewechselt bin. Denn hier hatte er sich 1972 bei Adolf Exeler habilitiert – nachdem er 1963 in Innsbruck promoviert wurde (ähnlich wie ein zweiter für mich wichtiger theologischer Lehrer: Elmar Klinger, der 1967 in Innsbruck promoviert wurde und sich 1974 in Münster habilitierte). Hier gab es auch jenen legendären Habermas-Lesekreis, zu dem u.a. Helmut Peukert und Alex Stock zählten. Das Thema seiner Würzburger Antrittsvorlesung war denn auch die herrschaftsfreie Kommunikation.
Kraftvolle Bilder
Rolfs Tod vor zwei Jahren hat mich traurig gemacht. Aber zugleich auch sehr dankbar. Kraftvolle Bilder von schönen Erinnerungen steigen in mir auf – vor allem an die Spaziergänge mit den Hunden über die Hügel von Eisingen. Ich erinnere mich gerne an die Besuche in seinem in provencalischem Rot gehaltenen Haus. An der Tür begrüßte ein selbstgehauener Stein-Uhu (nach seiner Emeritierung machte Rolf einen Steinmetz-Kurs), der voller Wärme und Weisheit lebensklug in die Welt blickte und heute in meinem Münsteraner Dienstzimmer steht:
Rolfs Theologie war wie sein Arbeitszimmer tief im Mutterboden der Erde eingegraben: Von den Fenstern aus blickte man auf einen blühenden, von Leben strotzenden Garten. Und über das Geschehen im Arbeitszimmer wachte eine schöne Marienikone mit leicht asymmetrischen Gesichtszügen. Nobody is perfect. Nichts musste hier rein und makellos sein, um für das Geheimnis des Lebens durchlässig zu werden. Zu seiner Abschiedsvorlesung haben wir ihm vom Lehrstuhlteam einen seiner Lieblingssätze geschenkt: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.“ (Joseph Beuys). Rolfs besondere Liebe galt der Sprache der Poesie – die folgenden Zeilen aus einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger notierte er einmal nach einem Besuch in das Kindergästebuch unseres Sohnes Frederik:
„Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, daß mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.“
Er möge leben in Fülle
Das Grab von Rolf Zerfaß ist am Rand des Würzburger Hauptfriedhofs gelegen. Genau dort, wo man jederzeit über eine nicht allzu hohe Mauer in die Stadt ausbüchsen könnte. Daneben ein großer, alter Baum mit einem Vogelnest, in dem die ‚Vögel des Himmels‘ nisten. Ihm hätte das sicher gefallen. Seit dem Tod seiner Frau Johanna steht auf dem Grab ein einfacher Stein, in welchen die Namen und Lebensdaten eingraviert sind – wie eine leuchtende Goldspur zweier miteinander verbundener Lebenslinien. Davor ein rosenumranktes Kreuz, das auf einem Sockel mit einer Gedichtzeile steht, die an den Titel von Rolfs Diakonievorlesung („Einer allein ist nicht zuwenig”) erinnert:
Fromme Phrasen verbieten sich bei einem Menschen wie Rolf Zerfaß – daher lautet mein Wunsch für ihn auch nicht RIP („Requiescat in pace“), sondern vielmehr VIP („Vivat in plenitudine“):
Er möge leben in Fülle!