Rechtsextremismus

Am Freitag auf der „Demo gegen rechts“ in Innsbruck war der Landhausplatz nicht einmal halb gefüllt (drei Wochen zuvor demonstrierten dort noch über 3.000 Menschen). Am Samstag hat mein Sohn seine „Vorwissenschaftliche Arbeit“ (VWA) zu „Antonio Gramsci und die Neue Rechte“ eingereicht. Und am Sonntag war eine exzellente Österreich-Analyse von Ruth Wodak auf Spiegel Online zu lesen. Alle drei Dinge haben mit dem zu tun, was Antonio Gramsci die „kulturelle Hegemonie“ nannte. Oder Franz-Josef Strauß die „Lufthoheit über den Stammtischen“. Rechtsextreme versuchen, genau das zu erreichen. Es stellt sich also die Frage: Hat der österreichische FPÖ-Chef Herbert Kickl (immerhin ein studierter Philosoph) etwa den kommunistischen Theoretiker Gramsci gelesen?

Schamlose Normalisierung

In der VWA meines Sohnes habe ich einen neuen Begriff gelernt: Overton-Fenster (benannt nach dem US-Politikwissenschaftler Joseph P. Overton). Gemeint ist der Spielraum des gesellschaftlich Sagbaren. Rechtsextreme weiten es im politischen „Kampf um die Köpfe“ (A. Gramsci) derzeit nicht nur in Deutschland oder Österreich sukzessive aus („Das wird man ja wohl noch sagen dürfen…“). Die österreichische Diskursanalytikerin Ruth Wodak hat dafür den sehr treffsicheren Begriff der „schamlosen Normalisierung“ geprägt. In unserer derzeitigen Heimat (als innereuropäische ‚Arbeitsmigrant:innen‘ sind auch wir inzwischen kulturell Mehrheimische) ist ihr zufolge aus lange als rechtsradikal geächteten Positionen „ein als zunehmend normal empfundener politischer Diskurs“ (R. Wodak) geworden. Was angesichts der schönfärberisch als „Remigration“ geframten Potsdamer Deportationspläne von AfD und ‚Identitären‘ für viele ein nicht hinnehmbarer „Tabubruch“ (R. Wodak) war, ist hier in Österreich schon lange die Position des (zumindest von den Umfragen her) aktuell „aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten“ (R. Wodak).

Dieser Kandidat, der rechtsextreme FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl, agierte lange in der zweiten  Reihe und tritt nun mit dem (mehr als nur populistischen) Anspruch an, ein „Volkskanzler“ sein zu wollen. Von ihm stammen so griffige wie furchtbare (und billige) Wahlslogans wie „Schweinskotelett statt Minarett“, „Daham statt Islam“ oder „Echte Volksvertreter, statt EU-Verräter“. Als Innenminister der Regierung des in zahllose Skandale verwickelten ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz unterstützte er eine entsprechende „Diskursverschiebung“ (R. Wodak) nach rechts. 2018 forderte er, Asylbewerber „konzentriert an einem Ort“ zusammenzuführen – eine unverhohlene Anspielung auf die Konzentrationslager. Kurz darauf stellte er in der dezisionistischen Manier Carl Schmitts mit der Behauptung, das Recht habe „der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht“ die Europäische Menschenrechtkonvention infrage.

Provokationen mit System

Das Schema, dem diese politische Strategie der FPÖ und anderer rechtspopulistischer Parteien folgt, nennt Ruth Wodak ein „rechtspopulistische Perpetuum Mobile“:

„Provokationen wie diese gehören zu den wichtigsten Strategien rechtsradikaler Gruppierungen: Mit markigen Sprüchen […] erreicht man die Hegemonie in den Medien […]. […] Auf jede Provokation folgt ein Skandal, auf jeden Skandal folgen Aufmerksamkeit und breite Empörung – woraufhin die Provokationen geleugnet, Opfer und Täter vertauscht werden. Zuletzt beginnt die Suche nach einer Verschwörung […] und angeblichen Schuldigen. Wenn irgendwann die Fakten ans Tageslicht kommen, entschuldigt man sich der Form halber für die Provokation – und setzt sogleich die nächste.“

Auf diese Weise hat die FPÖ die politische Landschaft Österreichs verändert:

„Prozesse wie diese haben es geschafft, dass das politische Spektrum Schritt für Schritt nach rechts rückte. Argumente, Slogans und völkisch-nativistische Narrative wurden zunehmend normalisiert und von konservativen Mainstreamparteien […] übernommen, in der Hoffnung, den rechtsradikalen Parteien Wähler:innen abzuwerben, um einen drohenden Machtverlust abzuwenden.“

Die Geister, die ich rief…

Dieser Strategie wäre mit einer Aussage von Franz Müntefering (SPD) zu entgegnen, der in der Süddeutschen Zeitung (Rechtsjargon: „Sudeldeutsche Zeitung“) vor kurzem sagte, der Nationalsozialismus sei deswegen an die Macht gekommen, weil die demokratischen Parteien „nicht aufgepasst“ hätten. Das Problem sei nicht gewesen, dass der Extremismus plötzlich eine Mehrheit hatte, sondern vielmehr, dass die „Konservativen mit ihm paktiert haben“: „Sie haben gedacht, sie könnten ihn beherrschen. Das endete dann aber bald im Ermächtigungsgesetz und gab Hitler die absolute Macht.“ Das Problem ist die von weiten Teilen der Gesellschaft geduldete Normalisierung des (Rechts-)Radikalen, das im Falle der FPÖ durch zwei Koalitionen mit der ÖVP (2000-2006, 2017-2019) hoffähig gemacht wurde, die sich dieser in Teilen rechtsextremen Partei auch jetzt wieder als Steigbügelhalter zur Macht andient.

„Wir sind nicht rechtsextrem, sondern normal“ behauptete Kickl 2021 auf dem FPÖ-Parteitag. Kurz darauf trat die Partei mit dem Motto „Österreich normal“ auf – zeitgleich zur AfD-Kampagne zur deutschen Bundestagswahl mit dem Slogan „Deutschland. Aber normal“. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) ist auf diesen Zug aufgesprungen. „Bist du noch normal?“, begrüßt er seine Zuschauer in einem Video. Und er fragt, was denn heute überhaupt noch ‚normal‘ sei. Nicht normal seien für ihn jedenfalls „Klimakleber oder Linksradikale genauso wie Rechtsradikale oder Identitäre“, „islamistische Hassprediger genauso wie Vandalen und sonstige Extremisten“ – und dass man (so Nehammer nach Kritik durch Bundespräsident Alexander van der Bellen) „über Normalität eine große Debatte führt“. Es sei „wichtig, dass man Normalität in Österreich benennen darf“. Denn es sei zwar „okay, wenn sich jemand entschließt vegan zu leben“, es müsse aber im Gegenzug genauso „okay sein, wenn andere gerne Schnitzel essen“. 

„Volkskanzler“

Eingebettet ist diese politische ‚Normalisierung‘ der FPÖ in eine politischen (Un-)Kultur, in deren ‚Freunderlwirtschaft‘ nicht nur das Phänomen ‚Sebastian Kurz‘ gedeihen konnte, sondern auch so windige Unternehmergestalten wie der ehemalige „Wunderwuzzi“ René Benko groß (gemacht) wurden oder vermeintlich schneidige „Volks-Rock’n’Roller“ wie Andreas Gabalier in Hakenkreuzpose auf Plattencovern zu sehen sind. Entsprechendes Gedankengut infiltriert auch das Brauchtum der sogenannten ‚Volkskultur‘. So ’schmückte‘ vor einigen Jahren beim Almabtrieb in Götzens bei Innsbruck ein FPÖ-Gemeinderat eine Kuh in Ersetzung traditionell-christlicher Symbole mit dem Konterfei des damaligen FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer. Nach einem kurzen Sturm im Wasserglas der Tiroler Lokalpresse ging man schnell wieder zum politischen Alltag über: Business as usual.

In einer Bierzelt-Rede vom 1. Mai 2023 kündigte Herbert Kickl an, ein „Volkskanzler“ sein zu wollen. Es liege „etwas Großes in der Luft“, denn bald werde „ein anderer Wind in diesem Land wehen“. Diese Selbstbezeichung als ‚Volkskanzler‘ ist mehr als nur eine versteckte Anspielung auf den nationalsozialistischen „Volkskanzler“ Adolf Hitler. Kickl hat diesen offensichtlichen NS-Bezug geleugnet. Er denke dabei nicht an Hitler, sondern an den „Volkskanzler“ Leopold Figl. Hier liegt derselbe dog whistle effect (= Hundepfeifeneffekt) vor wie bei dem genannten Gabalier-Cover: Wer (wie Hunde bei der Pfeife) die (für Menschen nicht hörbaren) hohen Töne mitzuhören weiß, versteht, was hier wirklich gemeint ist. Für alles Weitere gilt das beschriebene ‚Perpetuum Mobile‘. Es ist daher mehr als nur intellektueller Alarmismus, wenn Ruth Wodak mit Blick auf die FPÖ-Drohung einer „Fahndungsliste“ für „Verantwortungsflüchtige“ aus der Coronazeit schreibt, in dieser Sprache kündige sich „ein autoritäres Regime bereits an“.

(Anti-)68iger

Auch von der erwiesenermaßen rechtsextremistischen ‚Identitären Bewegung‘ (Ursprung: Bloc identitaire in Frankreich), die sich als außerparlamentarische Opposition eines „68 von rechts“ (Volker Weiß) verstehen und deren Anführer Martin Sellner als ‚Deportations-Experte‘ zu dem Potsdamer Geheimtreffen des 25. November 2023 geladen war, grenzt die FPÖ sich nicht klar ab. Ganz im Gegenteil. 2021 nannte Kickl sie eine „NGO von rechts“ und ein „unterstützenswertes Projekt“. Das überrascht nicht, denn er versteht sich wie auch die ‚Identitären‘ als ein rechter (Anti-)68iger, der zwar mit ähnlichen Mitteln, zugleich aber mit anderen Zielen arbeitet:

„Das Projekt der 68er ist gescheitert. Wir erleben jetzt, nicht nur in Österreich, eine Gegenbewegung. Und das ist auch gut so. Für mich kommt es zu einer Rückkehr zur Normalität. […] Das Bedürfnis nach Orientierung, Geborgenheit und Heimat wird von uns wieder in ein positives Licht gerückt.“

Die rechtsextremen Hipster der ‚Identitären‘ garnieren als „Pop-Rechte“ (Th. Wagner) ihr radikales Gedankengut nicht nur mit aktuellen popkulturellen Versatzstücken, sie gerieren sich auch als die „Jugendbewegung der Neuen Rechten“ (J. Brund, K. Glösel, N. Strobl) – und sind damit ein Musterbeispiel für Gramscis Theorie. Ihr intellektueller Vordenker Alain de Benoist bezieht sich ganz explizit auf ihn:

„Man kann sich […] die Frage stellen, ob das Spiel um den entscheidenden Einsatz des Politischen, was das Wesentliche anbelangt, noch in der Arena der ‚Politik der Politiker‘ seinen Ort hat. […] Diese Frage zu stellen heißt, die Existenz einer kulturellen Macht zur Sprache zu bringen, die [der] […] politischen Macht […] in gewisser Weise vorausgeht. Es bedeutet […], die Gestalt jenes großen Theoretikers der ‚kulturellen Macht‘, des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci heraufzubeschwören, dessen Einfluss in bestimmten Kreisen der Linken sich heute […] vielleicht als entscheidend erweist.“

Kulturrevolution von rechts

Es lohnt, sich mit diesem Chefintellektuellen der internationalen Neuen Rechten zu befassen – und man fragt sich, ob Herbert Kickl vielleicht nicht nur Gramsci, sondern auch de Benoist gelesen hat. Dieser ordnet Gramscis kulturfokussierte Machttheorie neomarxistisch ein:

„Für die marxistische Theorie des klassischen Typs ist die Kultur […] ein ideologischer Überbau, der von der […] ökonomischen Struktur der Gesellschaft abhängt. […] Diese […] Definition […] ist von den Neomarxisten in Frage gestellt worden, da einige ihrer Vertreter gemerkt haben, dass […] man auf die Struktur der politischen […] Macht Einfluss nehmen kann, indem man auf den ‚Überbau‘ der Kultur […] einwirkt. Diese ‚Rück‘-Wirkung der Ideologie auf die [ökonomische] Basis, die Mao Tse-Tung gut analysiert hat, begründete zum Teil die chinesische Auffassung der ‚Kulturrevolution‘. Sie ist es auch, die den Versuch der Schüler Gramscis inspirierte, der […] institutionellen Macht eine […] metapolitische Gegenmacht entgegenzustellen […].“

Benoists „rein methodologische“ Übernahme des ursprünglich linken Konzepts der kulturellen Hegemonie wirken wie das ‚Drehbuch‘ der Neuen Rechten zur Machtübernahme nicht nur in Österreich und Deutschland. Er betont, dass die westlichen Demokratien gegen „diese Infiltration der Geister“ aufgrund ihrer eigenen rechtstaatlich-liberalen Grundwerte „sehr schlecht gewappnet, ja gänzlich waffenlos“ seien:

„Die liberalen Mächte sind […] Gefangene ihrer eigenen Prinzipien […]: Einerseits ist in einer pluralistischen […] Ordnung die freie Konkurrenz […] allen vorhandenen Ideologien garantiert, und die Gesellschaft kann die subversiven Ideologien nicht zur Verantwortung ziehen ohne selbst tyrannisch zu werden […]. […] Andererseits […] sind […] die liberalen Regime, wie die Intelligenzija über die größte Freiheit verfügt, ihre kritische Rolle auszuüben, der Ort des schwächsten Konsenses. […] Man gelangt […] zu einem Teufelskreis. Die Aktivität der Intellektuellen trägt dazu bei, den allgemeinen Konsens zu zerstören […]. Je mehr der Konsens nun aber abbröckelt […] desto stärker wird die Nachfrage nach Ideologien […]. Entsprechend begünstigt die Macht, die verfassungsmäßig verpflichtet ist, den Schwankungen der öffentlichen Meinung Rechnung zu tragen, […] jenen Prozess der Substitution der Werte, dessen Opfer sie letzten Endes wird.“

Demokratischer Frühling?

Was kann, was muss man diesem Streben der extremen Rechten nach kultureller Hegemonie entgegensetzen? Neben dem Ausschöpfen aller rechtstaatlichen Mittel einer wehrhaften liberalen Demokratie vielleicht auch ein anarchisch-fröhliches Stück metapolitische (Anders-)Kultur wie das Lied Frühling der jungen Sängerin Soffie. Oder bei den aktuellen ‚Lichtermeeren‘ in München und anderswo. Denn unsere Demokratie ist bunt. Sie ist lebendig. Und sie ist stark. Sie hat eine ‚Superkraft‘ – die Kraft der tausend Lichter:

„Es mag pathetisch klingen, aber so ist es. Gerade feiert Deutschland jedes Wochenende ein Fest der Demokratie. Ein ganz besonderes hat in München stattgefunden, auf der Theresienwiese. […] Gemeinsam hat [ein breites zivilgesellschaftliches] […] Bündnis die Lichterkette von 1992, auf die München noch heute stolz ist, in die Gegenwart getragen. Seit ein paar Wochen fühlt sich das Leben in dieser […] Stadt ganz anders an, irgendwie beschwingt und optimistisch, trotz allem. Ein neues Gemeinschaftsgefühl entsteht da gerade. Zu wünschen ist, dass die Akteure von der Theresienwiese weitermachen. Der Demokratie tun Emotionen gut […]. Das Fest der Demokratie kann man nicht oft genug feiern.“ (Bernd Kastner).

Dabei kann man dann auch das „offene Narrativ“ (Lieven Boeve) des Christentums als eine alteritär geöffnete und nicht identitär geschlossene Alternative im Sinne einer „Ressource“ (François Jullien) offener Gesellschaften feiern. Theolog:innen wie Sonja Strube (eine Pionierin theologischer Kritik des Rechtsextremismus), Sebastian Pittl, Christian Kern oder ich selbst setzen sich schon lange damit auseinander – um nur ein paar leicht zugängliche Texte dieser (katholischen) Autor:innen zu verlinken. Vor kurzem ist zudem im Würzburger Echter-Verlag, der bereits mit dieser denkwürdigen Aktion (= einem Buch mit leeren weißen Seiten) von sich reden machte, ein sehr lesenswerter Sammelband über Die katholische Kirche und die radikale Rechte erschienen. Und spätestens seit dem Amtstantritt von Donald Trump – der hierzulande u. a. Proteste wie „Pulse of Europe“ hervorrief – lohnt es sich, auch auf die andere Seite des Atlantiks zu schauen und z. B. das Buch Doing Theology in the Age of Trump (2018) zur Hand zu nehmen, in dem Theolog:innen wie Catherine Keller oder John Caputo gegen den „christlichen Nationalismus“ der US-amerikanischen Rechten anschreiben, deren identitäres Christentum ein „blasphemisches Simulakrum“ (J. Caputo) darstellt.

Übrigens: Soffie kommt am 29. März 2024 nach Innsbruck.

Bildquelle: Agentur Morgenstern & Kaes – vielen Dank für die Erlaubnis, das Bild zu verwenden!