Radicchio Tardivo

Radicchio Tardivo

Radicchio tardivo („Später Radicchio”) – per Zufall habe ich ihn vor einigen Wochen bei unserem Südtiroler Obst-und-Gemüse-Stand in der Innsbrucker Markthalle entdeckt. Ich hatte gefragt, was das da hinten denn sei. Es schaue irgendwie interessant aus. Dann folgte eine begeisterte (und begeisternde) Erklärung, inklusive eines Kochrezepts. Ich habe zum Probieren dennoch erst einmal nur zwei Stück mit nach Hause mitgenommen. Dort gab es den Tardivo dann – wie vorgeschlagen – ganz kurz angebraten: in Olivenöl, mit Knoblauch und abgelöscht mit etwas Aceto Balsamico. Sehr gut schmeckt er aber auch als roher Salat mit Apfel und einer einfachen Vinaigrette aus Olivenöl, Balsamico und Quittengelee.

Arme-Leute-Essen

Auf der Suche nach einschlägiger Fachliteratur bin ich auf die Seite Kochgenossen gestoßen. In ihrem „Manifest“ beschreiben diese sich als eine „Genossenschaft von Gleichgesinnten, die ihre Aufgabe in der Dokumentation von authentischen Kochsprachen aus aller Welt sehen“. Über den Tardivo (lat. Cichorium intybus) schreiben sie, er sei „mild und frisch, die Textur seidig zart” und weniger bitter als der normale Radicchio. Historisch habe er eine wichtige Funktion gehabt, da er ein „typisches Gemüse der Armen“ gewesen sei. Diese hatten seine „gesundheitsfördernde und heilende Wirkung“ erkannt, die früher gerade „wegen der einseitigen Ernährung mit dem ewig gleichen Getreidebrei überlebenswichtig war”.

Zichorienkönig

Besonders berühmt wurde der Tardivo aus Treviso, wo das Land von „artesischem Quellwasser geradezu unterspült“ ist. Es sprudelt hier „mit konstanten 12–14 Grad“ aus dem Boden und ermöglicht so die „Produktion des Königs aller Zichoriengewächse“: des Radicchio rosso tardivo di Treviso, wie er „mit vollem Namen heißt. Seine Erntesaison beginnt Mitte November und dauert bis in den Februar hinein. Es handelt sich also um ein ausgesprochenes Wintergemüse, das außerhalb der Saison nirgendwo zu bekommen ist. Im Veneto wird dieses seidig-zarte Gewächs geradezu kultisch verehrt.”

Kraft des Frühlings

Bei der Tardivo-Herstellung wird der (ohnehin schon berühmte) Radicchio von Treviso im Spätherbst zusammen mit der Wurzel abgeerntet und in lichtlose Räume mit großen Wasserbecken gepackt: „Die Wurzeln werden dabei von dem frischen und temperierten Quellwasser umspült. Die Pflanzen reagieren mit einem zweiten Wachstumsschub und bilden in ihrer Mitte ein zartes Bündel von neuen Trieben aus. Das Ergebnis ist ein Gemüse, das roh, gedämpft, gebraten oder gegrillt eine unvergleichliche Delikatesse darstellt, die den Geschmack und die vitale Kraft des fernen Frühlings ahnen lässt.”

Milieustatement?

Mir ist bewusst, dass dieser Blogeintrag ein ziemliches Milieustatement darstellt (Markthalle!, linke Foodseite!): Willkommen im Milieu der linkliberal-urbanen Kosmopolit:innen, das Andreas Reckwitz die „neue Mittelschicht“ nennt. Zugleich meine ich aber, dass im Radicchio tardivo noch viel mehr als das steckt – etwas milieuübergreifend Existenzielles nämlich mit einer universalen Botschaft. Denn es ist mit dem Tardivo wie mit dem Leben: Für eine zweite, möglicherweise viel bessere, da ausgewogenere und delikatere Frucht des Alters braucht es manchmal frisches Wasser in einem neuen Umfeld.

Frau P. aus Grombühl

So wie in einer der schönsten Geschichten meiner Zivildienstzeit im Mobilen Sozialen Hilfsdienst der Caritas. Frau P. aus dem Würzburger Stadtteil Grombühl war völlig verwahrlost. Nachdem wir jedoch zusammen mit ihrer Nichte die Wohnung von Frau P. (und ein bisschen auch ihr Leben) wieder auf Vordermann bzw. -frau gebracht hatten, ist sie aufgeblüht. Sie entpuppte sich als ein Mathematikgenie mit fantastischem Gedächtnis und wusste sogar die Geburtstage der Freundinnen ihrer Zivis besser als diese. 

Warmherzig und Lebensklug

Frau P.s Geschichte macht Mut, wenn man selbst gerade Fünfzig geworden ist – und sich also in der zweiten Lebenshälfte befindet. So wie auch die Geschichte des besonders feinen späten Radicchio. Oder wie die wunderbar warmherzigen und lebensklugen Geschichten von „Jakob und Adele“, gespielt von Brigitte Horney und Carl-Heinz Schroth (Achtung, Alterstest: Wer kennt diese Serie noch?). Geschichten mit Pfiff: originell, lustvoll und gewitzt. Altersweise und doch junggeblieben. Irgendwie anders, durch und durch sympathisch und zugleich herausfordernd. So wie auch folgendes Lieblingsgedicht meiner Frau:

WARNUNG!

Wenn ich einmal eine alte Frau bin, werde ich Purpur tragen
Zusammen mit einem roten Hut, der nicht dazu passt und mir auch nicht gut steht,
Und ich werde meine Rente ausgeben für Cognac und Sommerhandschuhe,
Und für Sandalen aus Satin.
Und ich werde sagen: “Für Butter haben wir kein Geld”.

Wenn ich müde bin, werde ich mich auf dem Bürgersteig setzen.
Und ich werde die Gratisproben in den Geschäften verschlingen und ich werde die Alarmglocken läuten.
Und ich werde meinen Stock gegen die Zäune der öffentlichen Anlagen klappern lassen,
Und Schluss machen mit der Angepasstheit meiner Jugend.
Ich werde in meinen Hausschuhen in den Regen rausgehen
Und die Blumen pflücken, die in den Gärten anderer Leute wachsen.
Und ich werde spucken lernen.

Du kannst die schrecklichsten Hemden tragen und richtig dick werden
Und drei Pfund Würstchen auf einmal aufessen.
Oder eine Woche lang Dich von Brot und sauer Eingelegtem ernähren,
Und Bleistifte und Kugelschreiber oder Bierdeckel und andere Dinge horten.

Aber jetzt müssen wir Kleider haben, die uns trocken halten
Und unsere Miete zahlen und keine Schimpfwörter auf der Straße benutzen
Und gute Vorbilder für die Kinder sein.
Wir müssen Freunde zum Essen einladen und die Tageszeitungen lesen.

Aber sollte ich vielleicht nicht jetzt schon ein bisschen üben?
Damit die Leute, die mich kennen, nicht zu schockiert und überrascht sind
Wenn ich plötzlich alt bin und anfange, Purpur zu tragen.

Jenny Joseph