Practical turn der Systematischen Theologie?

Ein neuer Beitrag ist erschienen – diesmal in der altehrwürdigen Tübinger „Theologischen Quartalschrift“. Wer sich auch nur ein wenig in der (katholischen) Praktischen Theologie auskennt, findet bestimmt schon mit dem kleinen historisch-kritischen Exegesebesteck heraus, dass der erste Teil des Beitrags („konzilstheologische Erkundungen“) von mir und der zweite („praxistheoretische Beobachtungen“) von Michael Schüßler stammt. Wir beide zusammen verantworten die These, dass es seit geraumer Zeit nicht nur einen ‚Systematic Turn‘ in der Praktischen, sondern auch einen ‚Practical Turn‘ in der Systematischen Theologie gibt.

Mein erster Teil des Artikels zeigt anhand konzilstheologischer Dynamiken vom Zweiten Vatikanum bis in die Gegenwart, wie umstritten ein reziprokes Ineinander von Dogma und Pastoral bis heute ist (und wie sehr Papst Franziskus bei allen Fortschritten noch dahinter zurückbleibt). Dabei wird eine genealogische Konfliktlinie herauspräpariert, die von der vorkonziliar bestimmenden Differenz von römischer Schultheologie und französischer Reformtheologie im Pianischen Antimodernismus bis hin zur europäisch-weltsynodalen Kontinentalversammlung 2023 in Prag führt. Die entscheidende Frage ist: Welche dogmatische Autorität haben pastorale Erfahrungen? Sind sie für den theologisch-kirchlichen Diskurs nur von applikativer oder aber von konstitutiver Bedeutung?

Diese konzilstheologische Linie wird von Michael Schüßler mit Blick auf den aktuell beobachtbaren Practice Turn gegenwärtiger Praktischer und Systematischer Theologie praxistheoretisch verlängert und anhand ausgewählter Entwürfe exemplarisch vorgestellt. Sowohl die weiterhin umkämpfte konzilstheologische Wende („Ineinander von Dogma und Pastoral“) als auch die skizzierten neueren praxistheoretischen Ansätze („Ineinander von Theorie und Praxis“) markieren aus unserer Sicht einen zentralen Wendepunkt von Theologie und Kirche. Die pastoral-theologische Bedeutung christlicher Diskursarchive lässt sich nicht mehr vor, über oder jenseits von Praxisfeldern des zeitgenössischen Lebens in der Gegenwart suchen und finden, sondern nur noch in ihnen. Es braucht daher auch eine diskursive Würdigung dessen, was man praktisch-theologisch wie ich ‚Leutetheologie‘ nennen kann, „Alltagsdogmatik“ (Wolfgang Steck) oder „Ordinary Theology“ (Jeff Astley). Oder aber systematisch-theologisch „Herzenskatechismus“ (Karl Rahner), „latente Doktrin“ (Henri de Lubac) oder „loci theologici in actu“ (M.-Dominique Chenu).

Das ist keine neue Aufgabe. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Tübinger ‚Systematiker‘ Johann Sebastian von Drey (1777-1853) die Pastoraltheologie als „zwar nicht die angewandte, aber die umgewandte Dogmatik“ bezeichnet. Die komplementäre Gegenperspektive auf die Dogmatik als eine zwar nicht angewandte, wohl aber umgewandte Pastoral findet sich bei dem Tübinger ‚Praktiker‘ Anton Graf (1811-1867), der nur wenige Jahre später beklagte, dass einerseits die „theoretischen Theologen leicht den Blick in das Leben […] verschmähen, die theoretische Theologie zu sehr von […] dem praktischen Interesse entfernen und auf die praktische Theologie mit einer gewissen Geringschätzung herabblicken“ und dass andererseits „hinwiederum die praktischen Theologen leicht das wissenschaftliche Interesse […] fallen lassen und sich ganz und gar in das Leben und die Praxis versenken“.

Unser Fazit: Es ist an der Zeit, Zuschreibungen wie ‚praxisferne Systematische Theologie‘ oder ‚theorieschwache Praktische Theologie‘ zu überwinden und zu einer neuen, konzilstheologisch überzeugenden und praxistheoretisch ausgerichteten Verhältnisbestimmung beider Fächergruppen zu kommen.