Klimatheologie

Pappschild mit Aufschrift "Dinosaurier dachten auch sie hätten noch Zeit!"

Karl Rahner hat mit seiner anthropologischen Wende im 20. Jahrhundert die Theologie revolutioniert. Heute, in den Katastrophen des 21. Jahrhunderts, brauchen wir eine terrestrische (= erdbezogene) Wende der Theologie – einen fundamentalen „Material turn“ auch ihrer wissenschaftlichen Diskurse: Wir müssen lernen, die Frage nach Gott nicht mehr nur vom Menschen her zu stellen, sondern auch von der Erde aus. Man kann heute von Gott nicht mehr reden, ohne zugleich auch von der Erde zu sprechen.

Erde – eine soziale Akteurin

Fremdprophetische Inspirationen dazu bietet Bruno Latour (1947-2022). Der in einem Weingut in Burgund aufgewachsene der französische Soziologe hatte früh gelernt, dass auch Dinge wie Holzfässer und Weintrauben, Bodenbeschaffenheiten und Witterungsverhältnisse einflussreiche soziale Akteure sein können.

Unter dem Eindruck der Klimakatastrophe entwickelte er seit der Jahrtausendwende eine Theorie der Erde („Gaia“) als eigenständig ‚zurückschlagende‘ Akteurin. Nicht nur die Soziologie, sondern unsere gesamte Wahrnehmung der sozialen Welt ist für Latour entsprechend zu „rematerialisieren“ – weshalb er auch auf die Enzyklika Laudato sí von Papst Franziskus mit „freudiger Überraschung“ reagierte.

Terrestrische Existenzweisen

Im sich verschärfenden Menschheitskampf um „bewohnbaren Boden“ (Stichwort: Klimakatastrophenflucht) wird deutlich, dass es politisch in zunehmendem Maße darum geht, „mit anderen eine Welt teilen zu müssen, von der man längst weiß, dass sie nie wieder eine gemeinsame sein wird.“ Auch wenn es keine gemeinsame WELT mehr gibt, so bleibt doch immer noch eine gemeinsame ERDE.

Terrestrisch ist Latour zufolge eine nichtidentitäre Existenzweise, die sich „einerseits an einen bestimmten Boden zu binden und andererseits weltbezogen zu werden“ bereit macht: „Der Attraktor des TERRESTRISCHEN vereint die […] Figuren von Boden und Welt. […] Der Boden ermöglicht Bindung, die Welt Entbindung.“

Offenbarungen der Kunst

Eine entsprechende ‚terrestrische Offenbarung‘ war für mich die Ausstellung Unearthed der nigerianischen Künstlerin Otobong Nkanga im Kunsthaus Bregenz. Alles ist mit allem verbunden: Wasser vertrocknet mit der Zeit, ein Baum stirbt allmählich – und parallel dazu wächst in Echtzeit neues Leben im geschützten Raum von biosphärischen Kugeln. Unearthed bedeutet nicht nur ausgegraben, sondern auch zu Tage gefördert und ans Licht gebracht. Ohne diese aufklärende Offenbarungsqualität des Erdhaften gibt es keine Theologie mehr.

Auf dem Boden der Erde sitzt sich Nkanga angesichts der Klimakatastrophe mit den großen Fragen von Werden und Vergehen auseinander. In einem sehenswerten Interviewfilm beschreibt Otobong Nkanga diesen Zusammenhang des Lebens: „Tod, Leben und das Dazwischen. Den Tod nicht nur als Tod begreifen, sondern als das Ende von etwas, das ein Übergang zu etwas anderem ist. […] Der Mensch geht in etwas anderes, in ein anderes Wesen über, in ein Mineral, in Erde, in Pflanzen, die wir wieder nehmen und verwenden. Das ist ein Energiekreislauf, der sich unaufhörlich fortsetzt.“

Mystik der Erde

Mit Otobong Nkangas starken Bildern im Kopf ließe sich auch der vergessene Jesuit Victor Poucel (1872–1953) wiederentdecken, dessen sechsbändige Mystik der Erde unter anderem auch seinem ungleich bekannteren Mitbruder Pierre Teilhard de Chardin beeinflusste. Der aus Marseille stammende und im Libanon verstorbene Franzose war ein „homme de la Méditerranée“, der im Orient von der „Kraft des Lichts, der Luft und der Musik dieses zauberhaften Landes“ überwältigt war und für einen frühen material turn des Spirituellen steht: „Die Dinge sprechen zu uns“.

Seine christliche Mystik der Erde ist ein Angebot für zeitgenössische „Menschen, die wenig glauben und viel denken“: „Weil wir die Mystik der Erde vergessen haben, weisen wir jene des Himmels zurück.“ Der Jesuit empfiehlt ihnen eine geistliche (d. h. immer auch: körperliche) Übung des Terrestrischen: „Ja, ich liebe es, mich an diesen schönen Sommertagen […] ohne […] irgendeine andere Sehnsucht auf der Erde auszustrecken als mich von ihrer schieren Präsenz durchdringen zu lassen. […] Welch Zusammenhang zwischen uns, oh Mutter! Wie sehr sind wir doch dasselbe!“

Revision der klassischen Traktate

Das alles hat Konsequenzen für die Theologie, deren klassische Traktate einer terrestrischen Revision unterzogen werden müssen:

Eine terrestrische ANTHROPOLOGIE denkt den Menschen postanthropozentrisch als einen in terrestrischer Verbundenheit in das Netz des Lebens hineinverwobenen ‚Erdling’ (hebräisch: adamá). Human kommt von Humus – und von dorther ließe sich dann auch die Praxis des Aschenkreuzes als ein klimatischer Umkehrruf deuten: Erdenstaub bist du, und zu Erdenstaub wirst du zurückkehren.

Eine terrestrische SCHÖPFUNGSLEHRE müsste mit Ottmar Fuchs auf jeden „religiösen Schöpfungskitsch“ verzichten und stattdessen auch die dunkle Seite der Schöpfung Gottes in den Blick nehmen. Sie entgrenzt die anthropozentrische Vorstellung, dass wir nach Thomas von Aquin geschöpfliche Mitschöpferin und Mitschöpfer („cocreatrix“ und „cocreator“) sind und begreift nun auch die Erde als eine mit Recht zornige ‚Mitakteurin’ im Prozess der creatio continua

Eine terrestrische CHRISTOLOGIE („Deep incarnation“) müsste nicht nur passionstheologisch im Anschluss an Ignacio Ellacuría von einer ‚gekreuzigten Erde‘ sprechen, sondern auch ostertheologisch davon, dass die Auferstehung Jesu dessen historische Existenz auf den gesamten Kosmos hin öffnet: „Mit der Auferstehung hat Christus diese Welt nicht verlassen, wohl aber ist er tiefer in sie eingedrungen, so dass er jetzt […] in allen Dingen [und] […] nicht mehr nur in der Zeit und im Raum Palästinas zugegen ist, sondern in der gesamten Fülle von Zeit und Raum.“ (Leonardo Boff).

Eine terrestrische PNEUMATOLOGIE versteht die schöpferische Geistkraft Gottes nicht mehr nur zwischenmenschlich, sondern auch geophysisch als den belebenden Atem einer guten Atmosphäre. Dieser animiert und inspiriert, beseelt und beatmet die ganze Erde wie eine erfrischend kühle „Brise vom Paradise her“ (John Caputo) – und er lässt sie endlich wieder Atem holen. Denn die letzten Worte George Floyds („I can’t breathe“) sind längst zum Schrei der gesamten Schöpfung geworden.

Eine terrestrische EKKLESIOLOGIE erkennt in Bewegungen wie Fridays for future oder Letzte Generation die „prophetische Kraft der Jugend“ (Ottmar Fuchs). In der Solidarisierung mit ihnen sucht eine reichgottesfrohe ‚Bündniskirche‘ auch dort nach Verbündeten für die Sache Jesu. Synodale Weggemeinschaft erfordert entsprechende „Komplizenschaften“ (Gesa Ziemer) im Innen und nach Außen – denn „Kirche in der Welt von heute“ (GS), das heißt heute: Kirche auf dem Boden der Erde.

Eine terrestrische ESCHATOLOGIE verhandelt die Frage nach dem guten Ende der Schöpfung nicht unterhalb der existenziellen Herausforderung der Klimakatastrophe. Dann erst lassen sich die Zeichen der Zeit mit M.-Dominique Chenu möglicherweise auch als messianische Hoffnungszeichen begreifen und die heilvolle Zukunft des Menschen mit Karl Rahner als ein „inneres Moment“ seiner Gegenwart. Bis auf weiteres jedoch „seufzt die ganze Schöpfung und liegt in Wehen“ (Röm 8, 22).

Rechtskatholische Gegenposition

Eine theologische Gegenposition formuliert der Journalist Benjamin Leven: „Aber der Klimawandel [Framing: nicht Klimakrise!] ist keine Glaubensfrage und braucht daher auch keine Glaubensantworten.” Diese Äußerung liegt auf einer Linie mit folgender traditionalistischer Konzilskritik, in welcher der rechtsgerichtete Salonkatholik Alexander Kissler mit Blick auf die Pastoralkonstitution Gaudium et spes schreibt:

„Die Autoren, die Bischöfe samt Mitarbeitern, greifen im Bestreben, die ganze Wirklichkeit von damals zu umfassen, nach mancher Narretei. Muss ein ‚heiliges Konzil‘ sich Gedanken machen über Freizeit und Urlaub, über Verkehrsregeln und Währungen und Landwirtschaft? Soll es wirklich en detail die Gefährdungen seiner Gegenwart auflisten, vom Wettrüsten über die Armut in den Entwicklungsländern hin zum Atheismus?“

Offenbarung im Licht der Zeichen der Zeit

Letztlich geht es hier um die auch im Kontext des Synodalen Weges umstrittene Frage nach dem erkenntnistheologischen Status der „Zeichen der Zeit“ (Gaudium et spes 4) in der Interpretation der Offenbarung. Und da irren Leven wie Kissler mit ihren rechtskatholischen Ressentiments. Denn Lebensfragen sind immer zugleich auch Glaubensfragen. Die Klimakatastrophe ist sogar eine eminent wichtige Lebensfrage:

„Man könnte die Situation mit einem leckgeschlagenen Schiff auf hoher See vergleichen. Natürlich gibt es auch neben dieser Havarie Probleme: Das Essen in der dritten Klasse ist miserabel, die Matrosen werden ausgebeutet, die Musikkapelle spielt deutsche Schlager, aber wenn das Schiff untergeht, ist all das irrelevant. Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, wenn wir das Schiff nicht über Wasser halten können, brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken.“

(Hans-Joachim Schellnhuber).