Karl Rahner – zeitgenössisch weitergedacht

Alltag, Geheimnis und Anonymität: diese drei Begriffe Karl Rahners scheinen mir für ein kreatives Fortschreiben seiner Theologie heute – 120 Jahre nach seiner Geburt und 40 Jahre nach seinem Tod – wichtig zu sein. Im zerklüfteten Alltag unserer späten Moderne ist der christlich geglaubte Gott vor allem als ein unendliches Geheimnis erfahrbar, dessen wesentliche Eigenschaft in seiner Anonymität, d.h. in seiner existenziellen Namenlosigkeit besteht. Es ist daher vor allem dieser spirituelle, mystagogische und radikale Grundzug von Rahners Theologie, der ihr mit Blick auf zeitgenössisches Lebensgefühl eine überraschende Aktualität verleiht.

Spiritualität im Alltag des Lebens

Da ist zum einen die spirituelle Verortung seiner Theologie mitten im Alltag. Diese macht Rahner zu einem (als solcher meist übersehenen) geistlichen Lehrer. Deshalb habe ich auch entsprechende Texte von ihm zu Weihnachten und Ostern auf Feinschwarz.net veröffentlicht. Rahner war nämlich nicht nur ein Autor schwer lesbarer theologischer Prosa, er war auch ein Lieferant von spirituellen Aphorismen mit Kalenderspruchqualität. Äußerungen wie der folgende Satz, dessen Sitz im Leben sich mit Blick auf die Innsbrucker Nordkette sofort erschließt: „Das Morgenlicht auf den Bergen ist der Beginn des Tages in den Tälern“ (Karl Rahner).

Seine gesamte Theologie war spirituell im Alltag verortet:

„Rahner war der Meinung […], dass der bevorzugte Ort der Entdeckung des Geheimnisses […] der Alltag […] ist. […] Er […] machte ihn zum Ausgangspunkt aller Betrachtungen über Gott. […] Er befragte Theologie auf ihre Alltäglichkeit und den Alltag auf seine theologische Qualität. […] Karl Rahner, der ein großer Theologe war, hatte ein außerordentliches Gespür für das gewöhnliche Leben.“ (Elmar Klinger).

Im Rahnerschen Originalton klingt das dann so:

„Die schlichte […] Alltäglichkeit birgt selber […] das schweigende Geheimnis, das wir Gott […] nennen […]. Der Mensch ist […] das Wesen, das […] die verborgenen Tiefen der Wirklichkeit entriegelt. […] Wer als Mensch die kleine Zeit an das Herz der Ewigkeit nimmt, die er selbst in sich trägt, der merkt […], daß auch die kleinen Dinge unsagbare Tiefen haben.“ (Karl Rahner)

Und weiter:

„Es waltet in jedem Leben ein Unsagbares: das Geheimnis. […] Man müßte […] von […] der Sehnsucht […] sprechen […]. So […] müßte man noch viel konkreter werden […] in jener einfachen Dichte letzter und doch überall im Alltag gegebener Erfahrung, in dem der Mensch immer, mit den Sandkörnern des Strandes beschäftigt, am Rand des unendlichen Geheimnisses wohnt.“ (Karl Rahner).

Diese Gedanken lassen sich mühelos mit dem US-Phänomenologen Alfred Schütz verbinden, der in seinem posthum veröffentlichten Hauptwerk Strukturen der Lebenswelt über ereignishafte Unterbrechungen im Kontinuum des Alltags nachdachte:

„Unsere Frage ist […], wie [die] […] routinemäßige Abfolge unproblematischer Erfahrungen unterbrochen wird und […] sich gegen einen Hintergrund von Selbstverständlichem ein Problem abhebt. […] Die lebensweltliche Wirklichkeit fordert mich […] zur Neuauslegung meiner Erfahrung auf […]. […] Das heißt aber, dass […] die in meinem Erfahrungsvorrat sedimentierten Auslegungen […] nun nicht mehr als ausreichend angesehen werden können und ich die Horizontauslegung wieder aufnehmen muss.“

Diese irritierende Unterbrechung, die das eigenen Lebenswissen zu einer transformativen Selbstüberschreitung herausfordert, folgt einer für Rahner typischen inkarnationstheologischen In-Grammatik: Offenbarung im Alltag, Gnade in Natur, Gott in Welt. Man könnte auch sagen: Transzendenz in Immanenz. Während Rahner dabei vor allem die Transzendenz der Immanenz betonte, so gilt es heute – mit Rahner über ihn hinaus – auch die „Immanenz der Transzendenz“ (Michael Schüßler) bzw. Gottes „Transimmanenz“ (Judith Gruber) zu entdecken. Der transzendente Gott wäre dann tatsächlich „mitten in unserem Leben jenseitig“ (Dietrich Bonhoeffer) – eine ‚transimmanente‘ Gottesformel, die einerseits die außeralltägliche Transzendenz Gottes sicherstellt („jenseitig“), sie zugleich aber andererseits auch inmitten alltäglicher Immanenz verortet („mitten in unserem Leben“).

Mystagogie in das Geheimnis Gottes

Der nächste Punkt ist daher Rahners Geheimnistheologie: Gott ist im Alltag nicht als ein lösbares Rätsel präsent, sondern ein unendliches Geheimnis. Darum ist eine der wichtigsten Gottesmetaphern Rahners auch der Horizont: jene (wie das Mysterium Gottes) überall, d.h. an jedem Ort der Welt präsente Scheidelinie zwischen Himmel und Erde, die sich zugleich in dem Maße immer weiter entzieht, in dem man sich ihr zu nähern versucht. Gottes Name (Ex 3,14: „Ich bin der ich bin“) ist ein paradoxer Nicht-Name – eine sprachliche „Leerstelle“ (Hans-Joachim Sander), die nicht vorschnell spirituell gefüllt werden darf, sondern prinzipiell theologisch offen gehalten werden muss. Gott ist nicht dingfest und handhabbar zu machen, denn er ist uns nicht „zuhanden“ (Martin Heidegger).

In begrifflicher, d.h. nichtmetaphorischer Sprache gesprochen, verwendet Rahner häufig den aus meiner Sicht stärksten Gottesbegriff überhaupt: „das unendliche Geheimnis, das wir Gott nennen“ (Karl Rahner). Hier wird die – abgrundtiefe – semiotische Differenz von Bezeichnetem (= Gott als Signifikat) und Bezeichnendem (= „Gott“ als Signifikant) mit spirituell angemessener Ehrfurcht gewahrt. Theologie ist ein Grenzprojekt menschlicher Sprache, in dem das Wort ‚Gott‘ – so Rahner im Grundkurs des Glaubens – das „letzte Wort vor dem anbetend verstummenden Schweigen gegenüber dem unsagbaren Geheimnis“ ist. Die folgenden Sätze aus Rahners letztem Vortrag Erfahrungen eines katholischen Theologen (anlässlich seines 80. Geburtstags in Freiburg) gehören für mich daher zum Stärksten, was die christliche Theologie im vergangenen Jahrhundert in Sprache gebracht hat:

„Wir reden von Gott […]; wir müssen dies selbstverständlich, [denn] wir können nicht bloß von Gott schweigen, weil man dies nur […] wirklich kann, wenn man zuerst geredet hat. Aber bei diesem Reden vergessen wir dann meistens, daß […] wir […] die unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein als den […] einzigen festen Punkt unseres Erkennens aushalten und so unsere Aussagen hineinfallen lassen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber. Wie sehr klingen unsere Aussagen von den Kathedern und Kanzeln so, dass man nicht gerade deutlich merkt, sie seien durchzittert von der letzten kreatürlichen Bescheidenheit, die weiß, dass alles Reden nur der letzte Augenblick vor jenem seligen Verstummen sein kann, das auch noch die Himmel der klaren Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht füllt.“

Theologie ist für Rahner daher nichts anderes als eine mystagogische Einführung in das Geheimnis Gottes am Grund des eigenen Lebens – ein geheimnistheologischer Theorieansatz, der meinem von Karl Rahner geprägten Lehrer Rolf Zerfaß zufolge von direkter pastoraler Relevanz ist:

„[Die Kirche darf] […] sich nicht selbst zum letzten Horizont […] machen. […] Zuerst und zuletzt geht es um Gott […]. Genau die strikte Besinnung auf Gott als den letzten Horizont allen Lebens […] führt aber keineswegs vom Menschen weg […]. […] Niemand hat diese unverfügbare Anwesenheit Gottes als Horizont unseres Lebens, als namenloses Geheimnis, dem wir uns nur anbetend aussetzen können, leidenschaftlicher beschrieben als Karl Rahner. Wir haben Gott nicht in unserem Besitz (auch nicht im Tabernakel). Wir haben ihn nicht im Griff und können ihn nicht auf den Begriff bringen.“ (Rolf Zerfaß).

Im Horizont dieses je größeren Gottes („Deus semper maior“) sortieren sich dann auch die kirchlichen Verhältnisse auf grundstürzende Weise neu:

„[Der] […] Gott, auf den hin die Kirche sich überschreitet, ist in ihr und neben ihr längst am Werk. Daran zu glauben, verändert den pastoralen Stil grundlegend. […] Diese neue Sicht […] kann gewonnen werden mit dem Übergang […] zu einer […] ‚mystagogischen’ Pastoral. Der Begriff ‚mystagogisch’ greift […] zurück auf den altkirchlichen Begriff der ‚mystagogischen Katechese’. […] Dahinter stand das didaktische Prinzip: zuerst die Erfahrung – dann die Reflexion. Zuerst handelt Gott an uns – dann reden wir über das, was er an uns getan hat. Dieses Prinzip überträgt Rahner auf die Pastoral der Kirche insgesamt; denn immer gilt, was ein altes Gebet der Kirche in die Worte faßt: ‚Du kommst all unserem Tun mit deiner Gnade zuvor‘. […] Der Selbstvollzug der Kirche gelingt […] nur, wo sie selbst daran glaubt, dass Gott ihrem Tun vorausgeht […]. Die Kirche bringt also den Menschen nicht etwas, was diese […] noch nicht haben, sondern deckt auf, was Gott ihnen längst schon schenkt […]. Das führt zu einer neuen [und entlastenden] pastoralen Spiritualität […].“ (Rolf Zerfaß).

Radikalität der Anonymität Gottes

Auf der Suche nach einem christlichen Gottesbegriff, der spätmodernem Lebens- und Weltgefühl entspricht, kann man daher an den (im ersten Teil dieses Beitrags skizzierten) Berliner Erfahrungen eines anonymen, d.h. namenlosen Gottes anzuknüpfen. In radikal gelebter Zeitgenossenschaft ist Rahners Theologie nicht nur mit derjenigen Michel de Certeaus, sondern auch mit der „Radical Theology“ John Caputos verwandt. Dieser geht in den (von Jacques Derrida inspirierten) Dekonstruktionen seiner ‚schwachen Theologie‘ davon aus, dass es den machtstarken 𝔊𝔬𝔱𝔱 eines identitären, autoritären und klerikalistischen Christentums gar nicht (oder nur in Form diskursiver Existenz) gibt (Rahner: „Gott sei Dank gibt es das nicht, was sich neunzig Prozent der Menschen unter Gott vorstellen“) – eine ‚heteromorphe‘ Schreibweise („Gothics“), die das Gegenteil Rahnerscher Gottesrede exakt ins Bild bringt:

„Als Ministrant habe ich […] für die Leute geantwortet, die […] durch das Latein zum Schweigen verurteilt waren. Sie sind dem Geschehen mit ihren Messbüchern gefolgt, in denen das Lateinische in gotischer Schrift auf der linken Seite stand […] und das Englische […] auf der rechten. […] Gott [= 𝔊𝔬𝔱𝔱] in christlich-gotischer Schrift sowie eine gute Portion Furcht und Zittern waren Reisegefährten […]. […] Aber […] der Gott [= 𝔊𝔬𝔱𝔱], mit dem viele von uns aufwuchsen […], das höchste Wesen, das alles sieht, alles weiß und alles kann […] diesen 𝔇𝔢𝔲𝔰 𝔬𝔪𝔫𝔦𝔭𝔬𝔱𝔢𝔫𝔰 […] gibt es nicht […].“ (John Caputo).

Genau an diesem Punkt setzt Rahners spätmodern gegenwartstaugliche Rede von der Anonymität eines namenlosen Gottes lebensweltlich an. Und genau an diesem existenziell bedeutsamen Punkt hat sich auch eine aus heutiger Sicht höchst aufschlussreiche Kritik entzündet, die zwar meiner Ansicht nach in der Sache kirchlich gründlich falsch liegt – aber dennoch auf eine theologisch richtige Fährte führt. In einer Rezension der Sämtlichen Werke Rahners konstatierte Dieter Hattrup einmal das „traurige Fehlen einer Gotteserfahrung mit Antlitz“. Bei Rahner wehe die ‚einfachen Gläubigen‘ kühl ein „gesichtsloser“, ja sogar „unpersönlicher“ Gott an: 

„Er […] hat […] einer Denkweise den Eintritt in die Kirche in Deutschland verschafft, die ihr das Herz erkältet […] hat. Das hat Rahner nicht gewollt, aber dennoch […] bewirkt […], so dass ihm selbst kalt wurde und er vom Winter in der Kirche sprechen musste. […] Gott verliert bei Rahner zunehmend sein Gesicht […]. […] Ist der Mensch das Wesen vor dem Schweigen Gottes? […] Soll der schweigende Gott der Maßstab aller Dinge für den Menschen sein? […] Rahner ist nicht der Zeuge des sich zeigenden, sondern des sich verdunkelnden Gottes.“ (Dieter Hattrup).

Der Autor dieser Rezension liegt aus meiner Sicht aber nicht nur mit dieser theologischen Diagnose falsch (den nachkonziliaren ‚Temperaturabfall‘ in der Kirche hat das restaurative Rollback des Doppelpontifikats von Johannes Paul II und Benedikt XVI. zu verantworten), sondern auch mit der darauf folgenden Prognose zum damit verbundenen ‚katholikalen‘ Aufbruch am rechten Kirchenrand:

„Wem […] Gott persönlich ins Angesicht sieht, wird auf jedwede Formation der Gesellschaft [und damit eines radikal zeitgenössischen Christentums] skeptisch schauen […]. […] Der Papst hat gerade, im August 2000, zwei Millionen Jugendliche in Rom versammelt. Von denen dürfte keiner ein Rahner-Anhänger gewesen sein, entsprechend schwach war die deutsche Beteiligung. Und was Rahner als Anhänger in deutschsprachigen Ländern noch hat, löst sich langsam auf. […] Sehr ist also die Ausgabe der Sämtlichen Werke zu begrüßen, mit der Rahner gesammelt ins Archiv gestellt werden kann.“

Die triumphalistischen, sexuell und spirituell missbräuchlichen Machtasymmetrien („Klerikalismus„) dieses restaurativen Kirchenaufbruchs wurden im Zuge der Missbrauchskrise radikal erschüttert und sind inzwischen – dem schwachen, namenlosen Gott sei Dank! – kirchenpolitisch unter Druck geraten und werden allmählich auch synodal dekonstruiert. Denn weder ein personal gedachter Gott noch jubelnde Menschenmassen konnten verhindern, dass in dieser Kirche aufgrund systemischer Ursachen massenhaft Opfer missbraucht und Täter gedeckt wurden. Rahners vorsichtige Theologie synodaler, d.h. zeitgenössisch-weghafter Jesusnachfolge kann in dieser Situation jedoch weiterhelfen: Kirche als Societas Jesu, die in institutioneller Bescheidenheit dem nachfolgt, für dessen österliches Pascha in alltäglich-spiritueller, geheimnisvoll-mystagogischer und anonym-radikaler Weise gilt:  

„Durch das Meer ging dein Weg, / dein Pfad durch gewaltige Wasser, / doch niemand sah deine Spuren.“ (PS 77,20).

Schluss: Zukunft christlicher Nachfolge?

Als christlicher Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts fühlte Karl Rahner den „Entzug des Antlitzes“ Gottes in der menschlichen Erfahrung. Dass er „auf dieses Fehlen eine Theologie zu bauen“ (D. Hattrup) versuchte, ist meiner Ansicht nach keine Schwäche, sondern eine Stärke seines Denkens. Meine eigene Gotteserfahrung verhält sich nämlich genau umgekehrt zur theologischer Erwartung Hattrups. Ich glaube an die Stärke einer „schwachen Theologie“ (John Caputo) und empfinde die suchende Sprache der Geheimnistheologie Rahners als spirituell befreiend – denn auch mein Gebet formuliert „Worte ins Schweigen“ (Karl Rahner). Und in einer leergeräumten Sichtbetonkirche der Moderne kann ich allemal besser beten (und Liturgien feiern) als in einem Kirchenbau des 19. Jahrhunderts mit seiner „Steckerlgotik und anderem kleinbürgerlich reaktionären Material“ (Karl Rahner).

Betende sind heute ohnehin auf einen christlichen Existenzialismus zurückgeworfen, in welchem sie sich dem unendlichen Geheimnis Gottes auf dem Weg der Nachfolge Jesu zu nähern versuchen. Christ:innen können von diesem Geheimnis nämlich nicht sprechen ohne zugleich auch den Namen Jesu zu nennen (der auch im Zentrum jesuitischer Ordensspiritualität steht): „Es gibt kein Christentum, das an Jesus vorbei den unbegreiflichen Gott finden könnte.“ (Karl Rahner). Das „namenlose Geheimnis“ (Karl Rahner) hat daher einen Namen: Jesus von Nazareth. Von seiner Wortbedeutung her sagt er: Gott schafft Heil. Dieser heilschaffende Name Jesu bleibt menschlichem Zugriff jedoch auch dann entzogen, wenn er Christ:innen von heute in seine Nachfolge ruft:

„Das ‚Folge mir nach‘ kommt aus einer verwehenden […] Stimme auf uns zu, die sich in die Wandlungen ihres Echos hinein verflüchtigt hat und in der Masse der auf sie Antwortenden versinkt. Es bleibt nicht mehr außer dem, was durch sie […] ermöglicht wurde. Die Spur eines Vorübergangs.“ (Michel de Certeau).

Christliche Nachfolge, wie sie als Jesuit auch Karl Rahner zu leben versuchte, ist daher nicht als anderes als praktizierte „Jesusmystik“ (Albert Schweitzer):

„Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. […] Als ein […] Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! Und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. […] Und denjenigen, welche ihm gehorchen, […] wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist…“ (Albert Schweitzer).

Karl Rahners wohl berühmtestes Diktum „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker, einer, etwas erfahren hat, sein oder er wird nicht mehr sein“ (Karl Rahner), gilt auch für ihn selbst. Denn auch er war (so Rahner in seiner zwar nicht gschlechtergerechten, dafür aber genial einfachen Definition des Mystikers) „einer, der etwas erfahren hat“. Die ignatianischen Exerzitien waren für ihn „von entscheidender Bedeutung“ (Karl Rahner). Seine Theologie war daher immer auch spirituelle Theologie, die in der Erfahrung geistlicher Übungen gründete. Sie ermöglichten auch ihm einen „existenziellen Nachvollzug“ des Evangeliums, durch den er in die Mysterien des Lebens Jesu „hineingezogen“ (Andreas Batlogg) und so zu dessen Socius wurde: „Es ist unsere Geschichte, die wir da lesen.“ (Karl Rahner). Rahners Theologie war eine entsprechend geistlich, d.h. existenziell erfahrungsgesättigte „Spiritualität, die ihrer religiösen Erfahrung gemäße Vernunftwerkzeuge gefunden hat“ (M.-Dominique Chenu). Und auch für ihn gilt als wissenschaftlicher Theologe in spiritueller Hinsicht, was er selbst einmal über Thomas von Aquin schrieb:

„Es gibt bei ihm noch nicht jenen grässlichen Unterschied […] zwischen der Theologie und dem geistlichen Leben. Weil heute die theologischen Schulbücher sehr oft zu ungeistlich sind und die geistlichen Bücher zu untheologisch, darum ist bei uns immer die Gefahr, dass die Theologie zu einer unangenehmen Hürde wird, die […] nun einmal übersprungen werden muss, und dass unser geistliches Leben[…] aus kleinen, abgeleiteten Rinnsalen einer sekundären frommen Literatur […] [leben muss].“ (Karl Rahner).

Dieser erfahrungsbasierten Theologiebegriff ermöglicht stets neue „Erfahrungen mit Erfahrungen“ (Edward Schillebeeckx) anderer Christ:innen – und Erfahrung, so die ebenso genial einfache Definition von Michel Foucault, ist „etwas, woraus ich verändert hervorgehe“. Dass das genaue ‚Etwas’ in beiden Formulierungen (Rahners Mystik- und Foucaults Erfahrungsdefinition) in seiner näheren Bestimmung offen bleibt, ist dabei keine sprachliche Ungenauigkeit, sondern vielmehr dem Vorgang selbst geschuldet: Wirkliche Gotteserfahrung ist immer mit einer Art mystischem ‚Sprachverbot“ (Hans-Joachim Sander) belegt. Große christliche Mystiker:innen wie Karl Rahner haben daher immer nur sehr diskret, also: eigentlich fast gar nicht von ihrer Erfahrung gesprochen.

Denn Gott selbst bleibt das unaussprechliche „Geheimnis der Welt“ (Eberhard Jüngel). Und das „Gottgeheimnis Mensch“(Bernd Jochen Hilberath) ist nichts anderes als die anthropologische Seite einer Mystik, die sich als alltägliche, geheimnisvolle und anonyme Rede von jenem unendlichen Weltgeheimnis Gottes und des Menschen versteht, von dem man weder reden noch schweigen kann.

Das letzte Wort dieses Beitrags gebührt Karl Rahner selbst:

Quelle: Paul Imhof, Hubert Biallowons (Hg): Karl Rahner. Bilder eines Lebens, Freiburg/Br. 1985.

Teil 1 des Beitrags