Wenn es eine kirchliche Jugendgruppe seit über fünfzehn Jahren gibt, dann ist das nicht ganz alltäglich. Noch weniger alltäglich ist es jedoch, wenn diese Gruppe dann auch noch für drei Wochen gemeinsam nach Kambodscha fliegt – so geschehen bei einem Exposure-Projekt meiner KjG-Gruppe, das uns vom 22. 12. 2004 bis zum 12. 1. 2005 nach Thailand und Kambodscha führte. Ganz im Sinne des englischen Wortes exposure wollten wir uns einer neuen Erfahrung aussetzen und unseren Horizont erweitern. Eingefädelt und begleitet hatte das Ganze der indische Jesuit Noel Oliver, mit dem ich seit einem mehrmonatigen Indienaufenthalt befreundet war. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatte er lange selbst in Kambodscha gelebt und gearbeitet.
Erste Überraschungen
Wir kamen in Bangkok an und führen von dort aus mit dem Bus nach Kambodscha. Die erste Kirche, die wir bei einem kurzen Zwischenstop in der Grenzstadt Poipet besuchten, brachte schon gleich eine erste Überraschung: Kein Turm, keine Glocken – nichts. Dafür ein niedriges, ganz normales Wohnhaus aus Holz und Wellblech. Dem aus Kolumbien stammenden Father Hernàn Pinilla, dem zweiten Begleiter unserer Reise, entging das Erstaunen seiner europäischen Gäste nicht – er kommentierte es mit verschmitzten Lächeln: „Statt großer Häuser bauen wir hier lieber kleine Gemeinschaften.“ Schon verrückt, denke ich mir bei der Weiterfahrt im Jeep: Da sind wir als Deutsche nun hier in Kambodscha und fahren mit einem Kolumbianer durch die Gegend…
Das achte Sakrament
Auf der ersten Station unserer Rundreise durch Kambodscha besuchten wir Bischof Kike von Battambang, der eigentlich Enrique Figaredo heißt und ein spanischer Jesuit ist. Bischof Kike sagt: „Bei uns in Kambodscha ist der Rollstuhl das achte Sakrament.“ Und es gibt in den neueren Kirchen des Landes auch tatsächlich kaum ein Bild, auf dem nicht irgendwo ein Mensch im Rollstuhl als Teil einer biblischen Szene dargestellt wird – schließlich ist Kambodscha das Land mit den meisten Landminen-Opfern weltweit. Aufgefallen ist uns auch eine kleine, einfache Krippe im Bischofshaus von Battambang, die liebevoll auf einem ausrangierten Rollstuhl aufgestellt war. Und später in Siem Riep dann auch ein dazu passendes Kruzifix, auf welchem dem Gekreuzigten selbst sogar ein Bein fehlte. Theologisch nennt man so etwas ein gelungenes Beispiel von rekontextualisierender Inkulturation.
Neue Freunde
Als eher touristischen Höhepunkt unseres Aufenthalts in Battambang hatten unsere Freunde eine kleine Motorradtour organisiert, die uns zu einem alten Khmer-Tempel führte, inklusive einer anschließenden Bamboo-train-Draisinenfahrt. Nach diesen ersten Tagen in der Bischofsstadt ging es dann mit weniger abenteuerlichen Gefährten weiter nach Pursat. Dort baut Fr. Hernán mit seinem CROAP-Team gerade eine ökologische Musterfarm auf, die wir als Gruppe seitdem auch finanziell unterstützt haben – zum Beispiel bei der Anschaffung von Wasserpumpen für Kleinbauern-Familien. Nach den lauten und schmutzigen Städten Bangkok, Poipet und Battambang kam uns diese Farm wie ein kleines Paradies von Menschenhand vor. Lustige Khmer- bzw. Deutsch-Kurse, Karaoke-Abende und Mäxle-Spielrunden trugen dazu bei, dass wir auch in Pursat schnell neue Freunde fanden.
Slums auf dem Wasser
Von der CROAP-Farm aus besuchten wir ein floating village, ein schwimmendes Dorf im Tonle Sap-See. Dieser riesige See im Herzen Kambodschas ist fast schon ein kleines Meer. Wie bei einem ‚richtigen’ Meer gibt es dort auch einen Gezeitenwechsel. Immer dann nämlich, wenn in der Regenzeit der Wasserspiegel des Mekong ansteigt, drückt er den Tonle-Sap-Fluss zurück in den See und lässt ihn dadurch über die Ufer treten. Deren Bewohner sind daher ständig in Bewegung, ganze Dörfer am Rand des Sees wechseln somit zweimal im Jahr ihren Standort. Und dann gibt es in Ufernähe auch noch die genannten schwimmenden Dörfer, so etwas wie Slums auf dem Wasser – nur mit noch weniger Platz als in einem ‚richtigen’ Slum. Es riecht nicht gut in diesen Dörfern und die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Manche Leute trinken das brackige Seewasser sogar ungefiltert.
Eine schwimmende Kirche
Das gesamte Leben dieser floating villages, die hauptsächlich von der vietnamesischen Minderheit im Land bewohnt werden, spielt sich auf dem See ab. Wir haben kleine Kinder gesehen, die – in Plastikwannen oder Blechtonnen sitzend – auf dem See spielen mussten, weil sie zu Hause keinen Platz zum Spielen haben. Wir haben den Katecheten der kleinen Christengemeinde nach der Mission der Kirche in diesen Dörfern gefragt. Der junge Mann zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort: „Raum zum Leben schaffen“. Raum für diese Kinder zum Beispiel, die in der ‚schwimmenden Kirche’ unterrichtet werden und dort auch miteinander herumtoben und spielen dürfen. Ein mit den Gezeiten gehendes, offenes Hausboot mit Raum für alle – kein schlechtes Zukunftsbild für Kirche…
Blick in die Hölle
Eigentlich waren wir ja vorgewarnt, denn wir hatten während der Vorbereitung unserer Reise den berühmten Film Killing fields über die Schreckensherrschaft der Roten Khmer (1975-1979) gesehen. Dann aber waren wir doch alle ziemlich schockiert, als wir in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh im Tuol Sleng-Museum waren. Dort kann man sehen, zu welchen Bestalitäten Menschen fähig sind – zum Beispiel kleine Babies in die Luft zu werfen und im Fallen mit einem Bajonett aufzuspießen. Wir haben im Tuol Sleng-Museum, das unter dem Rotem Khmer als Foltergefängnis S 21 berüchtigt war, tatsächlich einen Blick in die Hölle geworfen. So still wie im Anschluss daran habe ich ‚meine Kids‘ weder davor noch danach jemals erlebt… Auch nach diesem Besuch sind wir in Kambodscha immer wieder auf das Problem einer nahezu kompletten Auslöschung der ‚kritischen Intelligenz’ des Landes unter Pol Pot gestoßen, das unterhalb der Oberfläche aktueller Schwierigkeiten auch Jahrzehnte später noch weiterwirkt. Wo eine leistungsfähige Elite fehlt, wird Bildung zum Schlüssel jeder Entwicklungchance. Und eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist wiederum das geduldige Heilen der Wunden einer Vergangenheit, die einfach nicht vergehen will.
Die Tempel von Angkor
Es folgte der kulturelle Höhepunkt unserer Reise: das Tempelareal von Angkor, die größte Sakralanlage der Welt. Eine ganze Stadt nur für die Götter. Jeder Tempel ist anders – majestätisch der erhabene Angkor Wat, geheimnisvoll der tausendgesichtige Bayon und verwunschen der überwucherte Ta Prohm. Man denkt dort immer irgendwie, es müsste doch gleich Indiana Jones um die Ecke kommen. Zu seiner Blütezeit im 12. Jahrhundert n. Chr. war Angkor eine der wohlhabendsten Städte der Welt. Seinen kulturellen Aufstieg verdankte es einer neuen Bewässerungsmethode, die eine mehrmalige Reisernte im Jahr ermöglichte und somit die Grundlage für ökonomisches Wachstum legte. Der Fall des Reiches von Angkor begann, als man die Erhaltung der Bewässerungs-Anlagen immer mehr zugunsten des Tempelbaus vernachlässigte – religiöse Hypertrophie war auch theologisch noch nie etwas Gutes… Der Sonnenaufgang hinter dem Angkor Wat jedenfalls war ein unvergessliches Erlebnis für uns – das wir nur leider Gottes mit fotoblitzenden Hundertschaften größtenteils japanischer Touristen zu teilen hatten.
Nobelpreisträger im Rollstuhl
Beim Besuch des Jesuite Refugee Service (JRS) in Siem Riep sind wir schließlich noch einem richtigen Friedensnobelpreisträger begegnet. Sareth Tun Channareth, der ihn 1997 als Vertreter des JRS stellvertretend für die gesamte internationale Bewegung zur Ächtung von Landminen entgegengenommen hatte. Kurz davor hatten wir ein Landminen-Museum besucht, in dem wir beim Blick auf ein nachgebautes Stück Urwald sehen konnten bzw. mussten, wie heimtückisch diese unmenschlichen Kriegsgeräte sind – nicht einmal die Hälfte der dort versteckten Minen konnten wir entdecken. Sareth ist selbst ein Landminen-Opfer und sitzt im Rollstuhl. Und er ist ein feuriger Redner, bei welchem der Funke seiner Begeisterung schnell überspringt. Nicht nur das Leuchten seiner Augen faszinierte uns, sondern auch seine eindringliche Fragen. Sareth fordert heraus, er ist schenkt seinen Zuhörern nichts. So sprachen wir während unserer Reise noch öfter über seine Frage, was wir zuhause wohl – und bitte nur eine Sache! – unseren Familien und Freunden als erstes erzählen werden. Man müsse sich entscheiden, sagt Sareth, wofür man sich einsetzen will und das dann auch wirklich tun. Schließlich könne man nicht die ganze Welt auf einmal retten.
Ein echter Märtyrer
Und dann war da noch die Geschichte von Richie, die uns sehr beeindruckte. Richie war ein junger Jesuit aus den Philippinen, der vor wenigen Jahren einen tragischen Tod starb. Ein schwieriger Schüler der von Noel Oliver mitgegründeten Technical school von Siem Riep sollte der Schule verwiesen werden. Am nächsten Morgen kam er mit einer Handgranate in die Schule und bedrohte die Verantwortlichen, die in eine Ecke des Lehrerzimmers flüchteten. Richie stürzte sich auf ihn und drückte den Jungen gegen die Wand. Dieser zog den Stift der Handgranate und warf sie hinter sich. Richie starb sofort – und rettete dabei seinem Mörder das Leben, indem er die tödlichen Splitter der Handgranate von ihm abschirmte. Schweigend stehen wir einige Zeit vor seinem Gedenkstein. Richies Eltern waren kurz nach seinem Tod nach Kambodscha gekommen, um die Regierung um die Freilassung des Mörders ihres Sohnes zu bitten. Ihre Begründung: „Richie hätte sicher nicht gewollt, dass sein Leben für immer verpfuscht ist.“
… und ein tanzender Jesuit
Der letzte Höhepunkt unserer Reise war eine Party mit Kindern und Jugendlichen in der Pfarrgemeinde von Richies bestem Freund Toteth – auch er ein junger Jesuit aus den Philippinen. Gerade diejenigen von uns, die noch nie einen ausgelassen tanzenden Priester gesehen hatten, waren spätestens jetzt sicher, dass sich die deutsche Kirche einige Scheiben von dieser Lebendigkeit abschneiden könnte: „Wir haben in Kambodscha erlebt, wie Kirche auch sein könnte“, so eine Teilnehmerin während der Nachbereitung unseres Exposure-Projekts. Insgesamt haben wir in Kambodscha unsere Grenzen erfahren, aber auch eine Menge Spaß gehabt und in jedem Fall eine völlig andere Welt kennengelernt. Eine fremde Welt, die eben auch Teil unserer globalen Wirklichkeit ist. Hoffentlich haben wir uns seitdem zu Hause etwas von diesen Erfahrungen im Alltag bewahrt und vielleicht sogar etwas daran verändert.
Nach und nach – oder wie man auf Khmer sagt: Moi, moi!