Journalistische Theologie?

Dieses theologische Journal ist eine Kreuzung aus Tagebuch und Tageszeitung. Auch das französische Wort journal kann beides bedeuten (von frz. le jour = der Tag). Biografisch gedeutete Lebenszeit trifft in diesem Blog daher auf journalisisch gedeutete Weltzeit – beide sind Deutungen, d.h. sie sind markiert durch die ‚positionale Kontingenz‘ der Perspektive ihres eigenen Standpunkts. Und Kontingenz, das heißt mit Niklas Luhmann: Es könnte – je nach Standpunkt – auch ganz anders sein. In jedem Fall versucht dieses Journal ein Bonmot einzulösen, dessen Urheberschaft so großen Theologen wie Karl Barth oder M.-Dominique Chenu zugeschrieben wird: Theologie muss man mit der Bibel in der einen und mit der Zeitung (oder mit dem Smartphone) in der anderen Hand treiben. Ich jedenfalls komme ohne die tägliche Lektüre von zumindest Süddeutscher Zeitung und Spiegel Online nicht aus. Paul VI., der sich als Papst den Namen des Schutzpatrons aller Journalist:innen wählte, hatte bereits 1975 empfohlen:

„Merkt auf […] ‚die Zeichen der Zeit’ […], versucht […] die Ideen kennenzulernen, die die Welt bewegen. Zu diesem Zweck ist die Lektüre der sogenannten ‚guten Presse’ […] unerlässlich.“

Zeitung als theologischer Ort

Dieses theologische Journal weiß sich der Tradition eines ‚Jahrhunderttheologen‘ der Nouvelle théologie verpflichtet, der nicht nur ein maßgeblicher Inspirator des Zweiten Vatikanums war, sondern auch ein „Großvater“ (Gustavo Gutiérrez) der lateinamerikanischen Befreiungstheologie: M.-Dominique Chenu (1895-1990), der jahrzehntelang mit bekannten Journalisten wie dem Le Monde-Gründer Hubert Beuve-Méry befreundet war. Der Dominikaner begann seine Vorlesungen nicht selten damit, dass er mit Studierenden anhand einer Tageszeitung die „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ (GS 4) deutete. Er entwickelte nicht nur eine „Theologie des Journalismus“, sondern betrieb auch selbst eine im Wortsinn (und nicht nur in ihren Ausdrucksformen) ‚journalistische Theologie‘ – eine Theologie des jeweiligen Tages im Sinne jenes konziliaren Aggiornamento, der sprachlich auf den Moment verweist, in dem man die Bücher auf den Stand des Tages (= ital. il giorno) bringt. Diese tagesaktuelle Mise au jour der Rede von Gott bringt nicht nur deren ‚heilige Bücher‘ auf die Höhe der Zeit, sie verbindet auch Theolog:innen mit Journalist:innen:

„Der Journalist widmet sich […] den Ereignissen des Tages […]. Es geht nicht um die Wahrheit an und für sich […], sondern um […] ihr Zerbersten inmitten all der Passionen […]. Darin muss der Journalist sein Zeugnis ablegen […]. Er ist an die Zeit gebunden […]. […] Auch ich als Theologe entdecke darin einen aufregenden Gegenstand meiner Betrachtung. […] Der Journalist und der Theologe finden sich […] nicht am Rand zweier disparater Bereiche wieder, deren Grenzen sich hier gerade zufällig treffen, sondern vielmehr im gemeinsamen Innehalten vor derselben Realität. Deren menschliche Dichte, die von dem einen beobachtet wird, ist […] unter dem Licht Gottes […] die ureigene Materie der Reflexion des anderen.“

Ideenreportagen

Von dieser journal-theologischen „Inkarnation der Ideen in die Tatsachen” (M.-Dominique Chenu) ist es nicht mehr weit bis zu jenem journal-philosophischen „Kreuzungspunkt von Ideen und Ereignissen“ (Michel Foucault), an dem auch Michel Foucaults berühmte Reportages d’idées angesiedelt waren: „Man muss bei der Geburt der Ideen in den Ereignissen dabei sein.“ Diese Ende der 1970er Jahre vor Ort verfassten „Ideenreportagen“ entstanden in einer konzertierten Aktion einiger Intellektueller, in der unter anderem auch eine Reportage von Susan Sontag über Vietnam nach dem Krieg und eine von Jorge Semprun über Spanien unter der Miltärdiktatur Francos vorgesehen war. Es erschienen jedoch nur Reportagen von Alain Finkiel­kraut über die USA nach Nixons Rücktritt und von Andre Glucksmann über die vietnamesischen Boatpeople – und von Michel Foucault über den vorrevolutionären Iran:  

„In der heutigen Welt wimmelt es […] von Ideen […]. Und zwar nicht nur in intellektuellen Zirkeln […], sondern […] auch bei […] Völkern, die in ihrer Geschichte bislang noch nicht gewohnt waren, das Wort zu ergreifen und sich Gehör zu verschaffen. […] Man muss die Geburt der Ideen und die Explosion ihrer Gewalt begleiten. Und zwar nicht in den Büchern, die sie ankündigen, sondern in den Ereignissen selbst, in denen sie ihre Kraft zeigen […]. Das ist der Sinn, den wir diesen Reportagen geben wollen, in denen die Analyse des Gedachten mit der Analyse des Ge­schehens verknüpft sein soll. Die Intellektuellen arbeiten mit den Journalisten an dem Punkt zusammen, wo sich die Ideen und die Ereignisse kreuzen.“

Erbe der Aufklärung

Bei Foucault erfolgte diese Kreuzung von Ideen und Ereignissen, die „Ideen als politische Ereignisse zu studieren“ versucht, im Kontext einer spätmodern-kritischen Wiederaufnahme des Projekts der Aufklärung. Dessen Beginn markiert der 1784 veröffentlichte Zeitungsartikel „Was ist Aufklärung?“ von Immanuel Kant. Als nietzscheanischer Erbe Kants, steht Foucault für eine „Spiegelung des Transzendentalen ins Historische “ (Andrea Hemminger), die auch eine ‚journalistische‘ Theologie prägt. Denn auch die Wahrheit theologischer Ideen hat eine Genealogie (wie bei Friedrich Nietzsche) – und die Geschichte ist die Bedingung ihrer Möglichkeit:

„Alles in allem geht es darum, die [Kantische] Kritik [theoretischer Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis] zu transformieren […] in eine praktische Kritik in Form einer möglichen Überschreitung. Das hat […] zur Konsequenz, dass Kritik nicht länger als Suche nach formalen Strukturen mit universaler Geltung praktiziert wird, sondern eher als eine historische Untersuchung der Ereignisse […]. […] Ich möchte […] das […] philosophische Ethos als eine historisch-praktische Erprobung jener Grenzen charakterisieren, die wir überschreiten können – und damit als unsere Arbeit an uns selbst als freie Wesen.“

Zeichen der Zeit

In ihrer theologischen Lektüre der Zeitsignatur verbindet eine „von prägnanten Zeichen signierte“ (Paul Petzel) Journal-Theologie Kant, Foucault und Chenu miteinander. Kant hatte bereits 1798 (daher auch recht altertümlich) in seinem Werk über den Streit der Fakultäten von „Geschichtszeichen“ gesprochen, die auf ein „Fortrücken“ des Menschengeschlechts zum Besseren hindeuten, das weniger auf „von Menschen verrichteten Taten oder Untaten“ als auf einer „Teilnehmung am Guten mit Affekt“ beruhe:

„Es ist […] die Denkungsart der Zuschauer, welche […] eine […] Teilnehmung […] auf einer Seite gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könnte ihnen sehr nachteilig werden, […] laut werden lässt, so aber […] einen Charakter des Menschengeschlechts […] beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen lässt, sondern selbst schon ein solcher ist […]. Die Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, dass ein wohlmeinender Mensch sie […] das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution […] findet doch in den Gemütern aller Zuschauer […] eine Teilnehmung dem Wünsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt […].“

Französische Revolution

Auch Foucault deutet die hier angesprochene Französische Revolution als ein „Geschichtszeichen“, bei dem es vor allem auf das ankommt, was es in den Köpfen auslöst:

„Es ist […] nicht die Revolution an sich […], die die Bedeutungsfunktion erfüllt. Was sie erfüllt […], ist die Art und Weise, wie sie rings herum von den Zuschauern aufgenommen wird, die […] sich von ihr zum Guten oder Schlechten mitreißen lassen. […] Was an der Revolution von Bedeutung ist, das ist nicht die Revolution selbst […], sondern was in den Köpfen der Leute geschieht […].“

Hier schließt sich der Kreis. Denn auch Chenu bezeichnet Les signes des temps den Sturm auf die Bastille als eine entsprechende „kollektive Bewusstwerdung“:

„Die Eroberung der Bastille durch eine Handvoll Pariser Aufständische im Juli 1789 war damals ein winziges Ereignis unter vielen anderen. Aber es […] wurde ‚signifikativ’, da es als Symbol für eine revolutionäre Welle diente, die dann schließlich ein Jahrhundert hindurch rund um die Welt rollte. […] Es geht […] darum, in diesem Ereignis jene verborgene Macht zu erkennen, die […] es zu einem Zeichen machte, das den Lauf der Zeiten seither bestimmt. Es kommt […] auf die von ihm in Gang gesetzte Bewusstwerdung an, welche […] die Energien und Hoffnungen einer ganzen Gruppe von Menschen […] in Beschlag nimmt […]. […] Diese allgemeinen Phänomene sind […] wirkliche ‚Zeichen’ nur durch den Sprung, den sie nicht ohne Bruch in die Kontinuität des menschlichen Zeitempfindens hineintragen.”

Ambivalenz der Zeichen

Chenu hat an den Zeichen der Zeit stets etwas mitbenannt, das auch Kant und Foucault an der Französischen Revolution erkannt haben: ihre Ambivalenz. Denn sie können auf Gutes genauso wie auf Schlechtes hindeuten. Es braucht daher analog zur spirituellen ‚Unterscheidung der Geister‘ auch eine theologische ‚Unterscheidung der Zeichen‘. Schon ein kurzer Blick in das Buch Signale der neuen Zeit von Joseph Goebbels zeigt, wie dringlich diese Unterscheidung in bestimmten Zeiten sein kann (und dramatisch falsch damals eine vermeintlich ‚fortschrittliche‘ Theologie gelegen ist, die unter diesen Zeichen ein „braunes Evangelium“ vertrat). Daher spricht Chenu von einer gemischten Wirklichkeit, in der man sich als Christ:in den einen Zeichen („pierres d’attente“) anschließen muss, während man gegen andere („pierres d‘achoppement“) Widerstand zu leisten hat. Pierres d’attente bezeichnen ursprünglich jene ‚Anschlusssteine’ zum zukünftigen Weiterbau, die aus dem Mauerwerk alter Gebäude herausragen. Chenu deutet messianisch-positive Zeichen der Zeit als solche ‚Andock-Möglichkeiten’ des Reiches Gottes am profanen Weltgebäude:

„Die Zeit versorgt sie mit […] Zeichen der Kohärenz des Evangeliums mit der Hoffnung der Menschen. Mögen […] die Christen […] unter dem Schock des geschichtlichen Ereignisses […] Gottes Zeichen der Zeit wahrnehmen, die er in die profane Realität einschreibt. Sie werden […] die glückliche Überraschung erleben […], dass man die Gnade in ihrem Wirken unter den Nichtchristen antreffen kann. Denn die Aktualität des Evangeliums erweist sich an den Problemen der Menschen.“

Theologisches Journal

Als Jugendlicher wollte ich Journalist werden (am besten Kriegsberichterstatter oder zumindest Auslandskorrespondent). Als Theologe kann ich diesen Wunsch nun zumindest teilweise ausleben. Denn ich finde, dass gute Theologie von ihren Darstellungsformen her immer auch genreplural unterwegs sein muss (und dabei ruhig etwas wagemutiger sein kann): ebenso gut lesbare Journalistik wie auch wissenschaftliche Fachliteratur verfassend. In der Spur des ethnografisch arbeitenden „New Journalism“, der dem Objektivitätsideal des US-Nachrichtenjournalismus eine entschieden subjektive (und damit mindestens ebenso erhellende) Perspektivität entgegensetzte, versucht dieser Blog daher auf experimentelle Weise beides zu verbinden: Journalistische Theologie als theologisches Journal.

Bildquellen: Archives-Chenu/Paris, Wikipedia, Pixabay.