Mehr als Liturgiereform

„In Fragen von großer Tragweite ist nichts praktischer als eine gute Theorie“ – diesen nur scheinbar paradoxen Satz verwende ich oft und gerne. Es handelt sich um mein Lieblingszitat von Josef Andreas Jungmann (1889-1975), der vor genau fünfzig Jahren verstorben ist. Jungmann wird heutzutage meist als Liturgiehistoriker erinnert, der die entsprechenden Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils maßgeblich inspirierte und so theologisch Weltgeltung erlangte. Von seinem Fach her war er jedoch Pastoraltheologe. Und ich durfte fast zwölf Jahre lang sein Nachfolger[1] auf dem Innsbrucker Lehrstuhl für Pastoraltheologie sein. Dass das so kam, ist fast schon ein Produkt theologischer ‚Inzucht‘. Denn ich wurde dort Nachfolger meines eigenen akademischen Urgroßvaters. Jungmann promovierte Rolf Zerfaß, Rolf Zerfaß promovierte Ottmar Fuchs – und Ottmar Fuchs promovierte mich…

Zurück zu den Quellen

Manchmal lässt sich der Ursprung eines neuen theologischen Diskurses exakt datieren – so auch in diesem Fall. Jungmanns Erleben (bzw. Erleiden) einer Sebastiani-Andacht am 20. Januar 1914 im Südtiroler Dorf Niedervintl war ein Ereignis, das ihn nachhaltig prägte. Seither betrachtete er es als seine „Lebensaufgabe“[2], christliche Praktiken von historischen Überlagerungen zu befreien und sie wieder auf die Gestalt Jesu zu zentrieren: „Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht Jesus Christus“[3].

Über die Konsequenzen einer christozentrisch erneuerten Pastoral schreibt Jungmann: „Zentrum des Glaubens und der christlichen Religion ist Jesus; dieses Zentrum haben aber viele Menschen – und oft auch die Kirche selbst – aus den Augen verloren. […] An wichtigster und erster Stelle steht, dass durch eine […] Zentrierung auf Christus der gesamte Inhalt der Frohbotschaft tatsächlich tiefgreifender verstanden und erfasst werden kann. […] Christozentrik besagt […], dass der Heilswille Gottes in Christus zusammenlaufe […], Christozentrik ist der Weg der Menschen zu Gott.“ (31).

Dieser Weg umfasst nicht nur volkskirchlich-traditionelle Frömmigkeitsübungen wie die Sebastiani-Andacht des Jahres 1914, sondern das gesamte christliche Leben: „Christus vivit. Er lebt auch auf Erden unter uns fort bis ans Ende der Welt, und nicht nur in dem engen Gehäuse unserer Tabernakel […]. Das Christusleben ist das Feuer, das auf die Erde geworfen wurde und das weiterbrennt in den Herzen aller Gotteskinder. Es ist der eine Strom, an dessen Ufern alles aufgesproßt ist, was Großes und Heiliges erblüht im Reiche Gottes, der auch unsere Herzen benetzen muß, wenn sie nicht verdorren sollen.“[4] Es entsteht ein neues christliches Weltverhältnis, das bereits auf die konziliare Pastoralkonstitution vorausweist: „Die Gefahr besteht tatsächlich, daß wir eine Religion ohne Welt aufbauen – wir dürfen uns dann nicht wundern, wenn das Ergebnis eine Welt ohne Religion wäre.“[5]

„Christozentrische Neuausrichtung“

Begonnen hatte diese christozentrische Neuausrichtung am genannten Datum. Mein Südtiroler Doktorand Michael Mair, mit dem ich viel von bzw. über Jungmann gelernt habe, berichtet: „Am 20. Januar 1914 wurde er angewiesen, eine Sebastianandacht zu halten. Dabei sollte er an einem dem Heiligen Sebastian geweihten Seitenaltar zum Allerheiligsten hin das Ave Maria beten. Diese […] Vermischung unterschiedlicher […] Verehrungsformen waren für Josef Andreas Jungmann ein Unding, die klare Linie des Glaubens, das Zentrum, Jesus Christus […] ging völlig aus den Augen verloren. Dieses Erlebnis war schließlich der Auslöser für die ersten schriftlichen Tätigkeiten Jungmanns.“[6]

Diese Sebastiani-Andacht war ein punktuelles Biografikum, das als partikulares pastorales Ereignis in den Reformen des Konzils universale dogmatische Wirksamkeit entfaltete: von einem kleinen Dorf in Südtirol in eine der offiziellen Kommissionen des Zweiten Vatikanums hinein. Es ist fast so wie in der physikalischen Chaostheorie: ein simpler lokaler Flügelschlag kann andernorts einen ganzen Orkan auslösen. Diese weltkirchlichen Auswirkungen einer ortskirchlichen Pastoralerfahrung ist von hoher Signifikanz für die Theologiegeschichte. Wie zentral diese Erfahrung für Jungmann selbst war, zeigt ein Tagebucheintrag am Erscheinungstag seines pastoraltheologischen Hauptwerks Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung am 20. Januar 1936: „Heute ist ‚Die Frohbotschaft‘ erschienen; […] heute, 22 Jahre nach dem Schlußtag jener Sebastiani-Andacht von 1914. Deo gratias“[7].

Innsbrucker Verkündigungstheologie

Jungmanns 1936 veröffentlichte Programmschrift, die kurz nach ihrer Veröffentlichung aufgrund des Drucks von römischen Autoritäten aus dem Verkehr gezogen werden musste, begründete die sogenannte Innsbrucker Verkündigungstheologie – einen jener theologischen Aufbrüche der Zwischenkriegszeit, die zunächst von Rom gestoppt wurden, dann aber ‚in the long run‘ zum Konzil führten. Jungmanns Frohbbotschaft von 1936 steht somit in einer Reihe mit anderen, fast zeitgleich erschienenen Schlüsselwerken der Theologiegeschichte im 20. Jahrhundert: M.-Dominique Chenus Une école de théologie: Le Saulchoir (1937), Karl Rahners Hörer der Wortes (1941)[8] und Henri de Lubacs Catholicisme. Les asepects sociaux du dogme (1938). Es wäre lohnend, diese reformtheologische ‚Achsenzeit‘ vor dem Zweiten Vatikanum einmal in ihrem Zusammenhang zu untersuchen[9].

Zusammen mit seinen Mitbrüdern Hugo Rahner ( „Theologie der Verkündigung“), Franz Dander („Seelsorgsdogmatik“) und Franz Lakner („Seelsorgs-Theologie“) stellte Jungmann darin dem dogmatischen Kerndiskurs der damals vorherrschenden Schultheologie einen pastoral ausgerichteten Vorfelddiskurs zur Seite: „[Bisher war wenig die Rede] […] von der Möglichkeit oder Notwendigkeit […], schärfer zu unterscheiden […] zwischen der theologisch-wissenschaftlichen Fassung des Dogmas und der lebenspraktischen Darstellung desselben. […] Es ist auf den ersten Blick ein gewaltiger Kontrast, der sich ergibt, wenn wir die […] Glaubensverkündigung des christlichen Altertums neben einen Katechismus von heute oder gar neben ein theologisches Kompendium stellen. Dort eine schlichte Botschaft, ein anschauliches Bild, hier ein kompliziertes Gebäude von Begriffen, Einteilungen, Unterscheidungen. […] So wurde […] aus der schlichten Predigt der Apostel der kühne Bau der katholischen Dogmatik, der scholastischen Theologie.“[10]

„Eigenständiges Theologieformat“

Die Forderung pastoraler Praktiker:innen nach einer größeren Lebensnähe der Dogmatik erfordere daher ein eigenständiges kerygmatisches Theologieformat: „[Es wäre] […] ein Missverständnis, wenn man […] die Verkündigung der christlichen Lehre in erster Linie von der wissenschaftlichen Theologie her bestimmen wollte. Es wäre verfehlt, wenn man im Katechismus nur einen Auszug aus einer Summa theologica suchen, wenn man der Predigt die Einteilungen und Unterscheidungen der theologischen Traktkate zumuten, wenn man den Formen und Formeln des Gebets und des Gottesdienstes die nüchterne Klarheit der theologischen Begriffe geben wollte. […] Denn die Aufgabe der Verkündigung ist von der Aufgabe der theologischen Wissenschaft wesentlich verschieden.“[11]

Jungmann lehnt schultheologische Diskurse zur Glaubensverkündigung keineswegs ab: „Ohne Zweifel setzt sie Wissen voraus. Klare Begriffe kommen ihr in hohem Maße zugute. Darum studieren unsere Kandidaten des Priestertums ja auch jahrelang Theologie. Der Sinn des theologischen Studiums ist aber nicht der, dass sie diese Theologie einmal in verkleinertem Format und vergröberter Ausführung an die Gläubigen weitergeben sollen. [Es lohnt nicht] […] den großen Aufwand an Zeit und Mühe, den dieses Studium erfordert, wenn der Priester […] daraus […] im Grunde nur gelernt hat, was er nicht sagen darf, und wenn er im übrigen einfach die hartgetretenen Wege der üblichen Verkündigung weiterwandert […].“[12] Jungmanns verkündigungstheologischer Ansatz ist daher ein grundlegend positiver: „Nein, das Studium der dogmatischen Theologie […] müsste auch positiv zu jener geistigen Selbständigkeit […] führen, die es ihm ermöglich, den ganzen Reichtum der überzeitlichen Wahrheit für die wandelbaren Nöte der Zeit auszuwerten. Je tiefer die Analyse gedrungen […], desto größer müsste die Freiheit und Beweglichkeit sein […].“[13]

Jungmanns Verkündigungstheologie gründet in der Differenz von Theologie und Verkündigung: „Die Theologie will zunächst der Erkenntnis dienen; sie durchforscht darum die religiöse Wirklichkeit bis an die äußersten Grenzen des Erkennbaren […], ohne im einzelnen nach dem Lebensinteresse zu fragen […]. Dagegen ist die Verkündigung ganz dem Leben zugewendet […]. Von dem, was die theologische Analyse vor ihr dienend ausbreitet, […] hat nur das Bedeutung, was wegweisend und zielführend ist, was dem Heilsverlangen […] entspricht. […] Damit ist für die Verkündigung auch schon eine Methode gegeben, die von der der Theologie wesentlich verschieden ist. Die Anordnung wird nicht, wie in der Theologie, vor allem die ontologische Ordnung aller Dinge, die in das Licht der Offenbarung treten, zu wiederholen haben […]; sie wird vielmehr durch die Sicht vom Menschen her und somit psychologisch bestimmt sein.“[14]

Rahners Kritik und konziliarer Konsens  

Der wohl prominenteste Kritiker dieses theologischen Neuansatzes war ein anderer Innsbrucker Jesuit, der wie kein anderer für eine anthropologische Wende der Theologie steht: Karl Rahner. Mit klaren Worten wendet er sich gegen die Jungmannsche Trennung von offenbarungsontologischer Dogmatik und anthropologischer Kerygmatik: „Das […] wichtigste Missverständnis, das die sogenannte ‚Verkündigungstheologie’ vertrat […], war […], dass die Meinung entstand […], es könne die wissenschaftliche Theologie so bleiben, wie sie ist, es sei nur ‚daneben’ eine kerygmatische Theologie zu erbauen und diese bestehe im wesentlichen darin, ‚dasselbe’, was die […] Schultheologie schon erarbeitet habe, ein wenig anders […] zu sagen […]. In Wirklichkeit ist die strengste, leidenschaftlich der Sache allein ergebene […] Theologie selber auf die Dauer die kerygmatischste.“[15]

Jungmanns Grundanliegen einer Überwindung der pastoralen Lebensferne schultheologischer Dogmatik teilt Rahner: „Weil […] das religiöse Leben und die Theologie […] zu wenig eine lebendige Einheit bilden, […] darum sehen unsere heutigen Schuldogmatiken heute so aus, wie sie auch vor 200 Jahren ausgesehen haben. Man darf bei der Wertung dieses Zustandes nicht meinen, der gewünschte Unterschied könne […] in einer nur […] rhetorischen Adaption einer alten Dogmatik an unsere Zeit, in neuen […] praktischen Korollarien bestehen. In dieser Hinsicht gilt vielmehr: eine Dogmatik […] soll sich bemühen, sachgemäß zu sein […], dann wird sie von selbst zeitgemäß […].“[16]

„Dogma und Pastoral“

Die weitere theologische Debatte verlief sich in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Im Rückblick kann man sagen, dass Rahner mit seiner damaligen Forderung Recht hatte, dass auch die systematische Theologie selbst praktisch sein müsse (Stichwort: pastoraler Sinn des Dogmas). Und Jungmann mit der seinen, es müsse für diesen Praxisbezug der gesamten Theologie auch eine eigene Disziplin geben (Stichwort: dogmatische Bedeutung der Pastoral). Nach dem Konzil stimmte Rahner als Herausgeber des neuen Handbuchs der Pastoraltheologie seinem Mitbruder Jungmann sogar ausdrücklich zu: „Wenn ein Konzil ‚Über die Kirche in der Welt von heute’ in einer eigenen Konstitution handelt, dann muss es dieses Thema doch auch […] in der Theologie geben. […]  Das pastorale Konzil ruft nach einer neuen, in ihrer Thematik wesentlich erweiterten und in ihrer Methode vertieften Pastoraltheologie […]. Auf dem Gebiet einer so verstandenen […] ‚Praktischen Theologie’ ist fast noch alles zu tun.“[17]

Rahners Überzeugung, dass dieses eigenständige Theologieformat mehr als ein pastoralpraktisches „Sammelsurium“[18], d.h. eine „Sammlung psychologischer, didaktischer, soziologischer Klugheitsregeln, die aus der einfachen Seelsorgepraxis unmittelbar gewonnen werden“[19] sein müsse, stimmt in der konziliaren Neuausgabe seiner Frohbotschaft von 1963 auch Jungmann zu: „Es gehört zum Wesen der kirchlichen Arbeit, dass sie sich beständig an gewandelte Verhältnisse anpassen muss. […] Es sollte darüber aber auch die theologische Besinnung nicht vernachlässigt werden; nur ihretwegen können wir ja von Pastoraltheologie sprechen. […] Dabei dürfte das Bemühen […] in der Richtung liegen, die das […] Konzil für die Erneuerung der Kirche ins Auge gefasst hat und die in hervorragendem Maße der Weisung entspricht, mit der Papst Johannes XXIII. […] das Konzil eröffnet hat: für das Glaubensgut werde man ‚eine Darlegungsform finden müssen, wie sie dem Lehramt, das vor allem pastoraler Natur ist, am meisten angemessen ist’.“[20]

Diese pastorale Wende des Zweiten Vatikanums[21], das in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et spes nicht nur den pastoralen Sinn des Dogmas, sondern auch die pastorale Bedeutung der Pastoral lehrte, setzt vor die vorkonziliare Debatte um die Innsbrucker Verkündigungstheologie ein ganz neues kirchenamtliches Vorzeichen: „Dogma und Pastoral sind […] einander wechselseitig zugeordnet. Sie stehen nicht mehr im Verhältnis einer Über- oder Unterordnung, […] sondern im Verhältnis der gegenseitigen Durchdringung, so dass beides von beidem her verstanden werden muss – eine Revolution vor dem Hintergrund der Geschichte des Fachs Pastoraltheologie, die ja ein Fach der Aufklärung ist und die sich speziell der römischen Dogmatik gegenüber nie durchsetzen konnte.“[22]

Pastoraltheologische Theoriebildung

„In der magischen Welt von Harry Potter gibt es die sprechenden Portraits der ehemaligen Schulleiter von Hogwarts“ – mit diesen Worten hat Michael Mair die Defensio seiner Doktorarbeit eröffnet. Ein schöner Verweis auf die – leider nicht magischen und daher stummen – Gemälde im Rokokosaal der Innsbrucker Fakultät, auf denen als ehemaliger Rektor der Universität auch Josef Andreas Jungmann zu sehen ist. Auch wenn er selbst nicht mehr direkt in unsere Zeit hineinspricht, kann seine Theologie doch immer noch weiterführende Impulse freisetzen. So ist beispielsweise Jungmanns Beitrag für die Theoriebildung pastoraltheologischer Diskurse nicht zu unterschätzen.

Der Wechsel im Titel seiner verkündigungstheologischen Programmschrift in diesem Zusammenhang besonders signifikant: von „Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung“ (1936) hin zu Glaubensverkündigung im Lichte der Frohbotschaft“ (1963). 1963 ist hier nicht nur numerisch, sondern auch theologisch eine Umkehrung von 1936. Denn auch wenn Dogma und Pastoral bei Jungmann zunächst nur additiv („und“) verbunden wurden, so geschah diese Verknüpfung später dann im Sinne der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums integrativ („im Lichte der“): Pastoral im Licht des Dogmas. Heute müsste man mit Papst Franziskus im Sinne des Konzils ergänzend hinzufügen[23]: Dogma im Licht der Pastoral. Denn es geht ja nicht nur um den gegenwärtigen Sinn des Evangeliums (Gaudium et spes: Lektüre der „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“[24]), sondern auch um die evangelische Bedeutung der Gegenwart (Papst Franziskus: „Lektüre des Evangeliums im Lichte der gegenwärtigen Kultur“[25]).

Und dort ausgehend, ist es dann auch kein großer Schritt mehr, die Liturgiegeschichte mit Jungmann als eine Quelle pastoraler Kreativität zu begreifen. Seine liturgiegeschichtlich ausgerichtete Pastoraltheologie steht für ein entsprechend gegenwartsbezogenes Ressourcement des christlichen Glaubens. Jungmanns diesbezügliches Meisterwerk Missarum sollemnia von 1948 erschließt das Dogma des christlichen Glaubens historisch: Geschichte als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis[26]. Eine solche Theologe „au risque de l’histoire“[27] ist dann auch unmittelbar pastoral wirksam: „Wie es […] dem Beruf des Pastoraltheologen entspricht, war es mir eigentlich nie um die reine Wissenschaft zu tun, auch nicht um die Aufhellung liturgischer Entwicklungen um ihrer selbst willen, sondern […] immer um den Gottesdienst in unserer Zeit […] und um die Klarstellung der […] Grundideen, aus denen er erneuert werden konnte. […] Allzuoft sind bis in unsere Gegenwart herein die beiden Dinge getrennt einhergegangen: die Wissenschaft von der Liturgie einerseits und die Arbeit im Sinn der Liturgischen Bewegung.“[28]

„Trennung von Praxis und Wissenschaft“

Auf diese Weise hat Jungmann ein pastoraltheologisches Zentralproblem weiterführend bearbeitet, das bereits Anton Graf beschäftigte. Der Tübinger beklagte bereits 1841, dass einerseits die „theoretischen Theologen leicht den Blick in das Leben […] verschmähen, die theoretische Theologie zu sehr von […] dem praktischen Interesse entfernen und auf die praktische Theologie mit einer gewissen Geringschätzung herabblicken“ und dass andererseits „hinwiederum die praktischen Theologen leicht das wissenschaftliche Interesse […] fallen lassen und sich ganz und gar in das Leben und die Praxis versenken“[29]. In den Worten Jungmanns: „Die Jünger der Wissenschaft kümmerten sich nicht um die Praxis, und die Praktiker wussten nur wenig von der Wissenschaft.“[30]

Weder das eine noch das andere ist theologisch oder pastoral kreativ. Heutige Pastoraltheolog:innen laufen daher wie Jungmann permanent zwischen entsprechenden Praxisfeldern und Diskursarchiven hin und her– sprich: sie führen einen ‚Diskurs‘ (von lat. „dis-currere“ = hin und her laufen) über die potenzielle Kreativität dieser Differenz (siehe Jungmanns entsprechenden Buchtitel Liturgisches Erbe und pastorale Gegenwart von 1960). Sie arbeiten somit explorativ und kritisch zugleich. Zu ihren empirischen Feldwahrnehmungen stellen sie immer auch Erkenntniskontraste von theologischen Archivrecherchen her. Dabei entsteht kein undefinierbares Diskursmischmasch, sondern vielmehr ein kontrastiver Mischdiskurs, der feldbezogene Praxisdiskurse („Theorie der Praxis“) auf kreative Weise mit archivgestützten Diskurspraktiken („Praxis der Theorie“) zusammenbringt. 

Nicht viel anders hat – so noch einmal Michael Mair – auch Josef Andreas Jungmann gearbeitet, als er den pastoralen Feldakteur:innen seiner Zeit mit einem wachen und kreativen Gegenwartsinteresse die theologischen Glaubensarchive des Christentums erschloss: „Weder die Vergangenheit allein noch die Gegenwart […] hat die idealen Voraussetzungen für das Glaubensleben von morgen. Beide Seiten müssen in einen Dialog treten, nur dann kann die Gestaltung der Zukunft funktionieren. […] Es geht darum, einen Text, eine historische Quelle, ein Stück Tradition der katholischen Kirche vor dem Hintergrund seiner Entstehung […] und vor dem Hintergrund […] der Zeit von heute zu verstehen […]. […] Jungmann will einen Dialog auf Augenhöhe zwischen Vergangenheit (anhand der Texte) und der Gegenwart (anhand der konkreten Erfahrungen im Leben), um die Zukunft zu gestalten.“[31]


[1] Die Inhaber des Innsbrucker Lehrstuhls für Pastoraltheologie waren seit dessen Einrichtung nach dem Ersten Weltkrieg: Michael Gatterer SJ (1919-1934), Josef Andreas Jungmann SJ (1934-1956), Walter Croce SJ (1957-1977), Hermann Stenger CSsR (1977-1990), Klemens Schaupp [SJ] (1990-1997), Franz Weber MCCJ (1997-2011) und Christian Bauer OPL (2012-2023).

[2] Jungmann in seinem Tagebuch, zit. nach Michael Mair: Josef Andreas Jungmann und das Konzil. Von der weltkirchlichen Realisierung eines (pastoral-)theologischen Gesamtkonzeptes; unveröffentlichte Dissertation, Innsbruck 2024, 5.

[3] Josef Andreas Jungmann: Die Stellung Christi im liturgischen Gebet, Münster, 1925, 33.

[4] Josef Andreas Jungmann: Die Gegenwart des Erlösungswerkes in der liturgischen Feier, in: Zeitschrift für Aszese und Mystik (1928), 301-316, 312.

[5] Josef Andreas Jungmann: Glaubensverkündigung im Lichte der Frohbotschaft, Innsbruck-Wien-München 1963, 174.

[6] Mair: Josef Andreas Jungmann und das Konzil, 4.

[7] Zit. nach Mair: Josef Andreas Jungmann und das Konzil, 5.

[8] Das Buch geht auf Vorträge zurück, die bereits 1937 auf den Salzburger Hochschulwochen gehalten wurden. Es weist (m. W. bislang noch nicht untersuchte) Interferenzen mit Emil Brunners Natur und Gnade (1934) auf, auf das Karl Barth im selben Jahr mit einem schroffen Nein! reagierte. In Hörer des Wortes bezieht sich Rahner nur auf letzteren, wenn er dort in Abgrenzung von Barth einerseits und liberaler bzw. modernistischer Theologie andererseits die eigene Offenbarungstheologie profiliert: „Denn unsere Religionsphilosophie […] zeigt einerseits eine positive Empfänglichkeit des Menschen für Offenbarung, sodaß diese nicht einfach der negative dialektische Gegenschlag wird […], und andererseits hat sich doch diese Empfänglichkeit nicht als eine solche gezeigt, der gegenüber die Offenbarung nur ein anderes Wort würde für eine immanent geforderte Erfüllung dieser Empfänglichkeit […]. Gott kann so einerseits wirklich noch reden, andererseits kann der Mensch dieses von ihm aus nicht berechenbare Wort so hören, dass es wirklich vernommen ist. […] [Dann braucht einerseits] Offenbarung […] nicht bloße Krisis des Menschlichen […] zu sein, das eigentlich nie Fleisch werden kann, sondern immer nur Stachel des Fleisches bleibt und doch kann andererseits und muss der Mensch die freie Offenbarung Gottes als unerwartete, ungeschuldete Gnade […] nicht zwar als Widernatur, wohl aber als Übernatur annehmen.“ (Karl Rahner: Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München 1941, 224f).

[9] Neben den systematischen Zusammenhängen dieser ‚Achsenzeit‘ gibt es auch zahlreiche historische Kontakte zwischen den genannten Akteuren aus dem Dominikaner- und Jesuitenorden. So reiste z. B. 1948 eine Abordnung der Innsbrucker Jesuitenfakultät (inkl. Jungmann und Rahner) nach Frankreich, um die führenden Vertreter der dortigen Nouvelle théologie zu treffen (vgl. Karl Heinz Neufeld: Die Brüder Rahner, Eine Biographie, Freiburg/Br. 22004, 194ff). Auch die Innsbrucker Verkündigungstheologie wurde damals als ‚Nuova Teologia‘ (Cornelio Fabro: Una nuova Teologia. La ‚Teologia della predicazione’, in: Divus Thomas (1942), 202-215) bezeichnet. Unmittelbar vor Konzilsbeginn schrieb M.-Dominique Chenu an Karl Rahner mit Blick auf die gerade versandten römischen Textvorlagen: „Die Gesamtheit dieser Texte […] lässt scholastische […] Unterscheidungen die Oberhand über das Wort Gottes gewinnen. Die Verkündigung der Frohen Botschaft an die Welt […] bleibt im Hintergrund. […] Die genannten Konstitutionen […] weisen lediglich auf […] innertheologische Irrtümer hin […]. Das Konzil wird zu einer Operation der Geistespolizei in den geschlossenen Mauern der Schultheologie.” (zit. nach M.-Dominique Chenu: Notes quotidiennes au Concile, Paris 1995, 57f). Rahner antwortete umgehend: „Die dogmatischen Schemata sind wirklich nicht das, was wir erwartet haben. Sie sind kein Wort an die Welt von heute, sie sind sterile Schultheologie ohne Kraft und Leben, Exzerpte aus Römischen Schulthesen. […] Wir sollten alles tun, um auf dem Konzil enge Kontakte zwischen den deutschen und französischen Theologen zu finden. Wir haben dieselben Anliegen und dieselben Sorgen.“ (Karl Rahner: Brief an M.-Dominique Chenu. Einseitiger maschinenschriftlicher Brief vom 13. September 1962; Archives de la province dominicaine de France, Fonds Chenu, Abteilung Korrespondenzen).

[10] Jungmann, Josef Andreas: Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, Regensburg 1936, VI; 53.

[11] Jungmann: Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, 56

[12] Jungmann: Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, 57f

[13] Jungmann: Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, 59

[14] Jungmann: Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, 60f.

[15] Karl Rahner: Über den Versuch eines Aufrisses einer Dogmatik, in Ders.: Schriften zur Theologie I, Einsiedeln-Zürich-Köln 1954, 9-47, 15. 

[16] Rahner: Über den Versuch eines Aufrisses einer Dogmatik, 15.

[17] Karl Rahner, Die Herausforderung der Theologie durch das Zweite Vatikanische Konzil, in Ders.: Schriften zur Theologie VIII, Einsiedeln – Zürich – Köln 1967, 39f.

[18] Karl Rahner: Die Praktische Theologie im Ganzen der theologischen Disziplinen, in Ders.: Schriften zur Theologie VIII, Einsiedeln – Zürich – Köln 1967, 133-149, 139

[19] Rahner: Die Praktische Theologie im Ganzen der theologischen Disziplinen, 139.

[20] Jungmann: Glaubensverkündigung im Lichte der Frohbotschaft, 7f.

[21] Vgl. Christian Bauer: Die Pastoralität des Zweiten Vatikanischen Konzils. Zur Genealogie eines zentralen Konzilsdiskurses, in: Sandra Arenas, Edoh Bedjra, Catherine Clifford u. a. (Hg.): Allgemeine Einführung und Hermeneutik. Das Zweite Vatikanische Konzil – Ereignis und Auftrag (Bd. 1), Freiburg/Br. 2024, 413-425.

[22] Elmar Klinger: Das Aggiornamento der Pastoralkonstitution, in: Franz-Xaver Kaufmann, Arnold Zingerle (Hg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, 171-187, 181.

[23] Im Vergleich zum Pontifikat seines Vorgängers Benedikt XVI. ist das ein gewaltiger Fortschritt. Papst Franziskus arbeitet in der Ausübung seines päpstlichen Lehramtes allerdings nur mit dem pastoralen Sinn des Dogmas, nicht aber mit der dogmatischen Bedeutung der Pastoral. In zahlreichen Konfliktfragen (z. B. zur Homosexualität) hat er sich „auf der Ebene der Lehre anders positioniert als auf der der Pastoral“ (Magnus Striet, Ende der Richtlinienkompetenz. Der Papst setzt auf Pragmatik, auf Katholisch.de): „Im Ton ist er […] gut jesuanisch milder gegenüber realen Lebensverhältnissen. […] Was dogmatisch Sünde ist, dürfe aus pastoralen Klugheitsgründen nicht zu Verurteilungen […] führen. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen, die vom Papst erwarten, für lehrmäßige Klarheit zu stehen, eine solche pastorale Pragmatik als Ausverkauf der Frage nach der Wahrheit begreifen. Umgekehrt lässt sich verstehen, dass andere bereits eine vorsichtige Pastoral als Aufbruch in eine andere Kirche feiern. Zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass die pastorale Pragmatik bereits die Dogmatik der Zukunft enthält.“ (ebd.).

[24] Gaudium et spes, Nr. 4

[25] Papst Franziskus, zit. nach Antonio Spadaro: Das Interview mit Papst Franziskus (Teil 2), auf: Herder.de.

[26] Siehe Michel Foucault, der als nietzscheanischer Erbe Kants für eine „Spiegelung des Transzendentalen ins Historische“ (Andrea Hemminger: Kritik und Geschichte. Foucault – ein Erbe Kants?, Berlin-Wien 2004, 14) steht: Auch theologische Wahrheiten haben eine Genealogie – und die Geschichte ist die Bedingung ihrer Möglichkeit.

[27] Fouilloux, Étienne: Une Église en quête de liberté. La pensée catholique française entre modernisme et Vatican II. 1914-1962, Paris 1998, 99.

[28] Josef Andreas Jungmann: Um Liturgie und Keryma, in: Balthasar Fischer, Hans B Meyer (Hg): J. A. Jungmann. Ein Leben für Liturgie und Kerygma, Innsbruck 1975, 12-18, 18.

[29] Anton Graf: Kritische Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der praktischen Theologie, Tübingen 1841, 304f.

[30] Jungmann: Um Liturgie und Keryma, 18.

[31] Mair: Josef Andreas Jungmann, 18.