Der junge Atomforscher Werner Heisenberg befindet sich aus gesundheitlichen Gründen auf Helgoland. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni 1925 entdeckt er dort überraschend Strukturen am Grund des Seins, die ihn wenig später die Fundamente der heutigen Quantenphysik legen lassen:
„Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir schon fast schwindelig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte. Ich war so erregt, dass ich an Schlaf nicht denken konnte.“[1]
Säkulare mystische Erfahrung
Was Heisenberg selbst hier im autobiographischen Rückblick über jene so erstaunlich lichte Nacht auf Helgoland schreibt, kommentiert ein Biograph als einen Schlüsselmoment der Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, der alle Kennzeichen einer säkularen mystischen Erfahrung aufweist:
„An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Uhr auf dem Tisch mit den merkwürdig beschriebenen Zetteln zeigte 3 Uhr in der Frühe. Draußen war tiefe Nacht, doch im Inneren von Werner Heisenberg leuchtete es hell und klar. Ihm war im Laufe des langen Abends ein Licht aufgegangen. Heisenberg konnte mit ihm mehr sehen als alle Menschen zuvor. Im Schein seiner ungewöhnlichen Ideen hatte sich dem jungen Mann ein bislang verborgen gebliebenes Bild von der Natur enthüllt, und ihre Wirklichkeit zeigte sich ihm in ihrer ganzen verlockenden Schönheit.“[2]„
Carlo Rovelli kommentiert in seinem Buch Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert Heisenbergs „Worte, die einen erschauern lassen“ (22), weil sie eine faszinierende und zugleich unheimliche „Dunkelzone im Zentrum der Wissenschaft“ (12) zugänglich machen:
„Auf dem kahlen, kargen und vom Nordwind gepeitschten Helgoland hat Werner Heisenberg den Schleier zwischen uns und der Wahrheit gelüftet – und in einen Abgrund geschaut. […] Er hatte als der Erste einen Blick in eines der schwindelerregendsten Geheimnisse der Natur geworfen, von dem die Menschheit je Ahnung erhielt. […] Es ist die Basis der einzigen grundlegenden Theorie der Welt, die noch nie in die Irre geführt hat und deren Grenzen wir bis heute nicht kennen. […] Das Dunkel verdichtet sich.“ (Carlo Rovelli: Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert, Hamburg 2021, 11, 17, 28, 37).
Ignatius am Cardoner
Angesichts dieser säkularen, quasimystischen Erfahrung stellt sich die Frage: Ist Heisenberg vielleicht ein ‚anonymer’ Mystiker? Seine quantenphysische Offenbarung auf Helgoland entspricht jedenfalls in auffälliger Weise dem berühmten Flusserlebnis des Hl. Ignatius von Loyola, des Gründers des Jesuitenordens, bei Manresa. In einer existenziellen Krisensituation saß dieser dort im Jahr 1522 am katalonischen Fluss Cardoner. Was dann geschah, berichtet er in der dritten Person des unbeteiligten Beobachters:
„In Andacht versunken, […] setzte sich eine kleine Weile nieder mit dem Blick auf den Fluss, der tief unten dahinfloss. Wie er nun so dasaß, begannen die Augen seines Verstandes sich ihm zu eröffnen. Nicht als ob er irgendeine Erscheinung gesehen hätte, sondern es wurde ihm […] die Erkenntnis vieler Dinge über das geistliche Leben wie auch über die Wahrheiten des Glaubens und über das menschliche Wissen geschenkt. Dies war von einer so großen Erleuchtung begleitet, dass ihm alles in neuem Licht erschien. Und das, was er damals erkannte, lässt sich nicht in Einzelheiten darstellen, obgleich es deren sehr viele waren. Nur dass er eine große Klarheit in seinem Verstand empfing.“[3]
In ähnlicher Weise lehrte Jahrhunderte später auch das Zweite Vatikanum, der christliche Glaube erhelle „alles in einem neuen Licht“ (GS 11) und kläre dabei auch das „Geheimnis des Menschen“ (GS 22) auf. Ignatius wird in diesem mystischen Augenblick am Cardoner eine entsprechende Flow-Erfahrung geschenkt:
„Wenn er im ganzen Verlauf seines Lebens […] alles zusammennimmt, was er von Gott an Hilfen erhalten und was er jemals gewusst hat, und wenn er all dies in eines fasst, so hält er dies alles doch nicht für so viel, wie er bei jenem einmaligen Erlebnis empfangen hat. Dieses Ereignis war so nachdrücklich, dass sein Geist wie ganz erleuchtet blieb. Und es war ihm, als sei er ein anderer Mensch geworden und habe einen anderen Verstand erhalten, als er früher besaß.“[4]
Weder reden noch schweigen
Heisenberg auf Helgoland und Ignatius am Fluss Cardoner – beide Erfahrungen werfen die Frage auf, was eigentlich christliche Mystik ist und was sie mit säkularen Erfahrungen wie jener Heisenbergs gemeinsam hat. Eine erste Gemeinsamkeit dürfte sein, dass es sich in beiden Fällen zunächst einmal um Erfahrungen handelt. Der berühmten, leider im Geist der damaligen Zeit noch nicht geschlechtergerecht formulierten Kurzdefinition Karl Rahners zufolge ist der Mystiker „einer, etwas erfahren hat“[5]. Und eine Erfahrung, so die genial einfache Definition von Michel Foucault, ist „etwas, woraus ich verändert hervorgehe“[6].
Dass das genaue ‚Etwas’ in beiden Formulierungen in seiner näheren Bestimmung offen bleibt, ist keine sprachliche Ungenauigkeit, sondern vielmehr dem Vorgang selbst geschuldet: Wirkliche Gotteserfahrung ist immer mit einer Art mystischem ‚Sprachverbot’[7] belegt. Große christliche Mystiker:innen haben daher immer nur sehr diskret, also: eigentlich fast gar nicht von ihrer persönlichen mystischen Erfahrung gesprochen. Denn Gott selbst ist das unaussprechliche „Geheimnis der Welt“[8]. Und das „Gottgeheimnis Mensch“[9] ist nichts anderes als die anthropologische Seite einer Mystik, die sich als christliche, andersreligiöse oder säkulare Rede von jenem unendlichen Weltgeheimnis Gottes und des Menschen versteht, von dem man weder reden noch schweigen kann: „Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gehört und gesehen haben.“ (Apg 4,20).
Jede mystische Erfahrung (also auch die säkulare Erfahrung Heisenbergs) hat – zumindest in anonymer Weise – mit dem unendlichen Mysterium Gottes zu tun, dessen verborgenes ‚Weltgeheimnis‘ prinzipiell, d.h. auf fundamentale Weise anfanghaft mit allen Dingen verbunden ist. Wie sich diese transzendentale Verbundenheit Gottes mit der Welt mit der Geschichtlichkeit seiner kategorialen Offenbarung in Jesus von Nazareth mystiktheologisch vermitteln lässt, erfordert einen eigenen, skizzenhaften Klärungsversuch.
Mystik der Nachfolge
Christ:innen nähern sich dem unendlichen Geheimnis Gottes auf dem Weg der Nachfolge Jesu. Sie können von diesem Geheimnis nicht reden, ohne zugleich den Namen Jesu zu nennen: „Es gibt kein Christentum, das an Jesus vorbei den unbegreiflichen Gott finden könnte.“[10]. Es ist der wohl entscheidende Unterschied zwischen der säkularen Mystik Heisenbergs und der christlichen Mystik des Hl. Ignatius von Loyola, dass die letztgenannte immer ein existenzieller Erfahrungsweg „in den Fußspuren Jesu“ (1 Petr 2,21) ist.
Dieser mystische Weg wird christlich stets in synodaler Weise, d. h. zusammen mit anderen Weggenoss:innen gegangen: Kirche als Societas Jesu. Es geht um eine jesusbewegte Nachfolgemystik, die christlicher Theologie eine entsprechende cognitio experimentalis Dei ermöglicht: „Nur nachfolgend wissen wir, auf wen wir uns eingelassen haben.“[11] Denn das Christentum überhaupt – und nicht nur christliche Mystik in ignatianischer Perspektive – ist nicht als anderes als auf diesem Weg der Nachfolge praktizierte „Jesusmystik“[12]:
„Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. […] Als ein […] Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! Und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. […] Und denjenigen, welche ihm gehorchen, […] wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist…“[13]
Noch einmal: Quanten-Mystik
Dieser mystische Weg der Nachfolge lässt sich in ereignishafter Weise quantentheoretisch rekonstruieren. Ihre mystische Verbundenheit mit Jesus (und allen ihm Nachfolgenden) lässt Christ:innen aller Zeiten genau jene universale Verbundenheit aller Dinge (und Menschen) erfahren, die auch Heisenbergs Helgoländer Entdeckung von 1925 in Form einer säkularen Mystik beschreibbar machte:
„Die leistungsfähigste […] wissenschaftliche Theorie, die die Menschheit je hervorgebracht hat, ist ein Mysterium. […] Die Zusammenfassung lautet, dass die Eigenschaften der Objekte nur im Augenblick ihrer Wechselwirkung existieren […]. […] Die physikalischen Variablen beschreiben nicht die Dinge: Sie beschreiben die Art, wie die Dinge sich einander wechselseitig manifestieren. […] Zwei Objekte haben – gemeinsam – mehr Eigenschaften als jeweils beide als einzelne. […] Die Beziehung zwischen zwei Objekten ist nichts, was in dem einen oder dem anderen enthalten wäre. Sie ist mehr.“ (Rovelli: Helgoland, 44, 82f, 94).
Diese „wechselseitige Verbundenheit“ (ebd., 95) von allem verknüpft die physikalische (und auch die soziale) Welt zu einem „Gewebe“ (ebd., 84) aus einzelnen Ereignissen:
„Die Welt der Quanten ist […] luftiger als die von der alten Physik [bzw. Theologie] erdachte, sie besteht allein aus […] diskontinuierlichen Ereignissen ohne Beständigkeit. […] Jede Wechselwirkung ist ein Ereignis, und eben diese leichten und ephemeren Ereignisse bilden die Wirklichkeit, nicht die mit absoluten Eigenschaften befrachteten schweren Objekte […]. […] Das Leben eines Elektrons ist […] ein punktförmig verlaufendes Sich-Manifestieren von Ereignissen, eines hier und eines da, wenn es mit etwas anderem wechselwirkt. Punktförmige, diskontinuierliche, probablistische, relative Ereignisse.“ (ebd., 84).
Theologie verbundener Ereignisse
Zeitgenössische theologische Anschlüsse an diese von Heisenberg auf Helgoland angestoßene quantentheoretische Sicht der Dinge finden sich in Michael Schüßlers ereignisbasierter, mit Quantenphysiker:innen wie Karen Barad grundsätzlich relational gedachten Rede von Gott, die mit Maria Herrmann im Sinne der Heisenbergschen Unschärferelation als eine „unscharfe Theologie“ zu konzipieren wäre. Sie finden sich – mit entsprechenden jesuanischen Bezügen – aber auch bereits in der älteren bibelwissenschaftlichen Forschung:
„Man muss […] die Einsichten der Formgeschichte viel ernster nehmen […]. […] Die Einzeltraditionen haben kerygmatischen Charakter. Das heißt […], dass diese Einzeltraditionen von einer immer und immer wieder neu gemachten Erfahrung herkommen und auf eine immer und immer wieder neu zu machende Erfahrung aus sind. Die Erfahrung aber ist: Einbruch der Herrschaft Gottes. […] Jede Einzeltradition enthält […] das Ganze.“ (Willi Marxsen: Christologie – praktisch, Gütersloh 1978, 38; 46f).
Die Jesusgeschichten der christlichen Evangelien verknüpfen die Einzelereignisse dieser anbrechenden Gottesherrschaft (damals wie heute) zu kohärenten Narrativen – und auch in diesen herrscht zwischen Gott und Welt eine fundamentale Relation der Unschärfe (Ottmar Fuchs spricht von einer „Mystik der Schwebe“), die in der unhintergehbaren Perspektivik des Seins keine übergeordnete Metaposition zulässt:
„Die Welt zersplittert in einem Spiel aus Blickpunkten, das eine einzige alles umfassende Sicht nicht zulässt. Es ist eine Welt aus Perspektiven, […] nicht aus […] eindeutigen Tatsachen. […] Die Welt ist ein perspektivisches Spiel, wie aus Spiegeln, die nur in wechselseitiger Spiegelung existieren. Die feine Körnung der Dinge ist diese seltsame luftige Welt, in der die Variablen relativ sind […]. Nur Gott kann zur gleichen Zeit an zwei Orte blicken, aber Gott, so es ihn gibt, verrät uns nicht, was er sieht.“ (Rovelli: Helgoland, 87, 95).
LESETIPP: Carlo Rovelli wunderbares populärphysikalisches Buch Helgoland war das Leseerlebnis meines Sommerurlaubs 2023 – mit Blick auf den sanft rauchenden Stromboli auf einer Terasse im kalabischen Tropea sitzend, hat es mir ganze Lichterketten aufgehen lassen.
[1] Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 122015, 78. Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Roman Siebenrock.
[2] Ernst Peter Fischer: Werner Heisenberg. Ein Wanderer zwischen zwei Welten, Heidelberg 2015, 11.
[3] Ignatius von Loyola: Der Bericht des Pilgers. Übersetzt und erläutert von Burkhart, Freiburg/Br. 41977, 65.
[4] Ignatius von Loyola: Der Bericht des Pilgers, 65.
[5] Karl Rahner: Frömmigkeit früher und heute, in: Ders. (Hrsg.), Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln 1966, 11-31, 22.
[6] Michel Foucault: Entretien avec Michel Foucault, in: Ders. (Hrsg.), Dits et Écrits II (1976-1988), Paris 2001, 860-914, 860.
[7] Siehe den Kurzfilm „Gott – eine mystische Grenze der Sprache“ (2020) auf meinem Youtube-Kanal Theologie am Andersort
[8] vgl. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 72001.
[9] Vgl. Bernd Jochen Hilberath: Karl Rahner. Gottgeheimnis Mensch, Mainz 1995.
[10] Karl Rahner: Rede des Ignatius von Loyola an einen jungen Jesuiten von heute, in: Paul Imhof/Helmuth Nils Loose/Ders., Ignatius von Loyola, Freiburg/Br. 1978, 9-38, 19.
[11] Johann B. Metz, Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg/Br. 1977, 35f.
[12] Albert Schweitzer: Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 61951, 641.
[13] Schweitzer: Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 641f. Papst Franziskus ermutigte zur Rückkehr an diesen Nullpunkt des eigenen Berufungspfades: „Nach Galiläa zurückkehren bedeutet […], zu jenem glühenden Augenblick zurückzukehren, in dem die Gnade Gottes mich am Anfang meines Weges berührt hat. […] [Es gilt] […], die lebendige Erinnerung an diese Berufung im Herzen zu bewahren, als Jesus meinen Weg gekreuzt hat, mich barmherzig angeschaut und mich aufgefordert hat, ihm zu folgen […].“ (Papst Franziskus, Predigt zur Osternacht am 19. April 2014),