Am 22. Oktober ist einer der größten Theologen unserer Zeit verstorben: Gustavo Gutiérrez (1928-2024). Der peruanische Dominikaner gilt als Gründungsvater der Theologie der Befreiung. Theologie als „Reflexion der Praxis im Licht des Evangeliums“ – besser als er könnte man auch die Aufgabe meines Fachs Pastoraltheologie kaum beschreiben. Vor genau zwanzig Jahren hatte ich das Glück, ihn während einer Zugfahrt von Paris nach Tübingen zu interviewen. Hier veröffentliche ich unser Gespräch ein zweites Mal.
Christian Bauer: Wo wohnen Sie im Augenblick und was tun Sie gerade?
Gustavo Gutiérrez: Ich lebe an zwei Orten, nämlich in meinem Heimatland Peru und in den USA, wo ich seit 2001 in Notre Dame Theologie lehre. Seltsamerweise war ich vorher nie Professor, denn ich habe mehr als vierzig Jahre lang mit Studenten und als Gemeindepriester in Lima gearbeitet und nebenher immer wieder theologische Vorlesungen und Kurse gehalten, Aufsätze und Bücher geschrieben. Ich liebe die Theologie, aber genauso liebe ich meine pastorale Arbeit – vielleicht sogar ein wenig mehr noch als die Theologie.
Was sind denn die Ursprünge dieser theologischen Verpflichtung auf pastorale Arbeit?
Das erste Buch, das ich in diesem Zusammenhang gelesen habe – als Jugendlicher, der wegen Osteomyelitis sechs Jahre lang nicht laufen konnte –, waren die Pensées von Blaise Pascal. Das letzte, paraphrasierende Zitat in meinem Buch zur Theologie der Befreiung ist ganz bewusst diesem Werk entnommen: „Alle politischen Theologien […] gelten nicht soviel wie eine echte Initiative im Sinne der Solidarität mit den ausgebeuteten Klassen der Gesellschaft.“
Sie haben als Jugendlicher also schon Pascal gelesen. Welche andere philosophischen Referenzpunkte hatten Sie?
Ich las zum Beispiel während meines Studiums auch viel Hegel – ich hatte hervorragende Hegelianer als Lehrer – und in den frühen sechziger Jahren bereits Levinas, also noch bevor er wirklich berühmt wurde. Später wurde Benjamin dann immer wichtiger für mich.
Es überrascht mich, dass Sie nicht auch Karl Marx nennen.
Der war hauptsächlich wegen seiner Beiträge zu den Sozialwissenschaften wichtig für mich, aber im Ganzen nicht allzu sehr.
Wenn man in die Fußnoten der „Theologie der Befreiung“ blickt, dann entdeckt man schnell einen gewissen französischen Einschlag. Kommt dieser starke Einfluss französischer Theologie von Ihren Studien in Europa?
Ja genau, so ist es. Ich habe in den fünfziger Jahren im belgischen Löwen und in Lyon studiert. Aber schon vorher habe ich zum Beispiel die großen Hirtenbriefe wie Essor ou declin de l’Eglise, Le sens de Dieu und Le prêtre dans la cité von Kardinal Suhard gelesen – im Peru der späten Vierziger. Und auch die 1929 in Belgien gegründete JOC (= Christliche Arbeiterjugend) war von größter Bedeutung für mich. Bei unserer pastoralen Arbeit in Lima beispielsweise benutzen wir deren methodischen Dreischritt: ‚Sehen – urteilen – handeln’.
Wer waren Ihre wichtigsten theologischen Lehrer während des Studiums?
Sehr wichtig waren für mich Theologen wie M.-Dominique Chenu, Yves Congar, Karl Rahner, Edward Schillebeeckx oder Christian Duquoc – aber hauptsächlich Chenu. Nebenbei bemerkt: Chenu ist nicht so sehr der Vater der Befreiungstheologie, vielmehr ist diese eine seiner vielen Töchter.
Sie haben gerade einige bekannte Mitglieder des Predigerordens genannt. Wann und warum sind Sie selbst Dominikaner geworden?
Ich bin in den Orden 1998 eingetreten. Ich hatte mit dem Gedanken seit Beginn der neunziger Jahre gespielt und sogar schon davor, denn ich hatte viele dominikanische Kontakte und Freunde. Erstmals habe ich diese Möglichkeit mit dem damaligen Ordensmeister Timothy Radcliffe, einem guten Freund, 1993 konkret erwogen. Ich stand dem Predigerorden schon immer sehr nahe. Ich teilte seine um die Predigt in Wort und Tat zentrierte Spiritualität – und als deren Ergebnis sein integrales Konzept von Theologie: „Contemplata aliis tradere”. Chenu hatte recht, als er sagte, um Bonaventura oder Thomas zu verstehen, müsse man zurück zu Franziskus und zu Dominikus gehen: Zuerst kommt die Spiritualität, dann erst folgt die Theologie.
Zurück zu Ihrer Biographie. Welche Rolle hat dabei das letzte Konzil gespielt?
Ich war zur vierten Session dort in Rom. Das Konzil war ein wahrhaft theologisches Ereignis, es hat so viele Veränderungen für uns alle gebracht – aber am Ende hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits war ich sehr froh darüber, dass die Theologie meiner Lehrer mit ihrer Offenheit für die wesentlichen Probleme der Zeit so großen Einfluss auf diese Veränderungen hatte. Andererseits aber hatte ich das Gefühl, dass das Konzil dennoch weit weg war von vielen Fragen der lateinamerikanischen Realität. Das Problem der Armut als menschliche Grundsituation und als Herausforderung für die Ansage des Evangeliums war kein zentrales Thema des Konzils. Diese Sorge aber war sehr wichtig für die Entstehung der Befreiungstheologie.
Was war dann der Beginn ihrer Entstehung?
1964 trafen sich einige lateinamerikanische Theologen zu einer kleinen Tagung in Petropolis in Brasilien. Dort präsentierte ich ein Paper über die Methodologie der Theologie als Reflexion auf die Praxis im Licht des Evangeliums. 1967 dann sprach ich während eines Kurses in Montreal über Armut und Kirche – eine Zusammenfassung dieses Kurses wurde zum letzten Kapitel meines Buches über die Theologie der Befreiung. Für eine weitere Tagung im Juli 1968 in Peru habe ich, jene beiden Themen von Methodologie und Armut kombinierend, diese Bezeichnung schließlich zum ersten Mal verwendet.
Was ist für Sie die Mitte der Theologie der Befreiung?
Ihre vorrangige Option für die Armen. Der Begriff enthält 90% dessen, was die Befreiungstheologie ausmacht. Diese berühmte Kurzformel wurde irgendwann zwischen den Generalversammlungen des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (1968) und in Puebla (1979) geboren. In Medellín kamen alle drei Einzelworte schon für sich vor, aber in Puebla erst wurden sie zu dem Ausdruck ‚vorrangige Option für die Armen’ zusammengefügt. Dieser Begriff verbindet jene drei Dimensionen der Armut miteinander, von denen ich schon 1967 in Montreal sprach: Die ‚Armen’ repräsentieren die Realität von Armut als etwas Bösem, die ‚Vorrangigkeit’ die spirituelle Dimension der Armut und die ‚Option’ steht für beides: Verpflichtung auf die Armen und Widerstand gegen die Armut.
Enthält diese Option für eine Vorrangigkeit der Armen auch eine ‘ausschließende Option’ gegen die Reichen?
Die vorrangige Option für die Armen ist mitnichten etwas Exklusives. Darum sprechen wir ja auch von einer ‚Vorrangigkeit’, denn diese setzt die Universalität der Liebe Gottes voraus. Sie besagt keineswegs, dass Gott nur die Armen liebt, sondern dass er sie besonders liebt. Und das nicht etwa, weil sie bessere Leute wären als andere. Nein, das überhaupt nicht. Letztlich sollen wir nicht die Armen lieben, weil sie selbst so gut sind, sondern weil Gott so gut ist.
Wie steht es eigentlich mit der Beziehung zwischen der Befreiungstheologie und der Soziallehre der Kirche?
Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Soziallehre der Kirche beschäftigt sich mit ökonomischen und sozialen Problemen. Die Befreiungstheologie dagegen beschäftigt sich mit allen wesentlichen Themen der Theologie: Gott, Christus, Gnade, Sünde. Durchgängig den Armen verpflichtet, bewegt sie sich mitten im Herzen der systematischen Theologie.
Sie haben Medellín und Puebla erwähnt. Was denken Sie denn über die Rolle, welche die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. auf diesen Versammlungen spielten?
Die Präsenz Pauls VI. in Medellín war ein deutliches Signal für uns und mit Populorum Progressio hatte er, wie später auch mit Evangelii nuntiandi, einen großen Einfluss auf die Entwicklung in Lateinamerika – gerade in letzterem Dokument besitzen wir einen Text, welcher der Theologie der Befreiung sehr nahe steht. Johannes Paul II. schließlich war der erste Papst, der immer wieder von der ‘vorrangige Option für die Armen’ und von einer ‘Kirche der Armen’ sprach. Der letztere Ausdruck stammt übrigens ursprünglich von Papst Johannes XXIII. und wurde von Kardinal Lercaro am Ende der ersten Session des Konzils aufgegriffen.
Was werden die wichtigsten Probleme der Zukunft sein, denen sich ein nächster Papst wird stellen müssen?
Sicherlich Fragen wie diejenigen der religiösen Pluralität, der Armut in der Welt, der Bioethik und der Sexualmoral, der gegenwärtigen Globalisierung.
Damit verbunden, aber grundsätzlicher gefragt: Was sind die größten Herausforderungen für eine Theologie von morgen?
Ich denke, einige Aspekte der Moderne, die Armut bzw. soziale Insignifikanz einer Mehrzahl der Menschheit und der religiöse Pluralismus werden die größten Herausforderungen der Zukunft für deren Ansage des Evangeliums sein. All diese Faktoren hängen eng zusammen und sie stellen wichtige Herausforderungen auch für die Theologie der Befreiung dar.
Für welche Zeichen unserer Zeit steht der 11. September 2001 vor diesem dreifachen Hintergrund?
Ich halte nichts von der These vom Zusammenprall der Kulturen. Für mich war der 11. September ein einzigartiges und schreckliches historisches Ereignis, aber er bedeutet keinen Beginn einer völlig neuen Ära. Ganz generell müssen wir dabei nicht nur die Zeichen der Zeit lesen, sondern diese auch in jenen drei Dimensionen unterscheiden, die ich gerade genannt habe: Moderne, Armut und Religion. Die Zeichen der Zeit nämlich sind niemals nur positive Zeichen des Fortschritts, sondern vielmehr immer in sich ambivalente Zeichen – repräsentieren sie doch gute Ereignisse der Geschichte genauso wie böse.
Wenn sie diese Zeichen sorgfältig im Licht des Evangeliums unterscheidet, wird dann auch die Theologie der Befreiung eine Zukunft haben?
Meine größte Sorge gilt nicht der Zukunft der Theologie, nicht einmal derjenigen der Befreiungstheologie. Auch sie ist nur ein Werkzeug. Viel mehr treibt mich die Zukunft und die Befreiung meines Volkes um – und die Präsenz des Evangeliums Jesu in ihm.
Vielen Dank für das Gespräch!
Erstveröffentlichung: Zeitschrift Orientierung (15. Mai 2006).