Gilles Deleuze (1925-1995) war einer jener großen Philosophen in Frankreichs „langem Sommer der Theorie“[1], die mich seit dem Studium faszinieren. Am 18. Januar 2025 wäre er hundert Jahre alt geworden. Sein von nomadischen Singularitäten bevölkertes, postidentitäres Differenzdenken, das mit den Denkmustern des gängigen philosophischen Repräsentationsdenkens bricht, beschäftigt mich schon lange. Ich habe mit seiner Hilfe den ämtertheologisch zentralen Gedanken der repraesentatio Christi dekonstuiert[2], und mit etwas Zeit würde ich dasselbe gerne auch einmal mit Blick auf den Streit der Kardinäle Joseph Ratzinger und Walter Kasper tun, die das ekklesiologischen Zueinander von Orts- und Weltkirche beide im Rahmen eines klassisch-griechischen Repräsentationsdenkens verhandeln (Ratzinger platonisch, Kasper aristotelisch), das mit Deleuze doch eigentlich differenztheoretisch zu überschreiten wäre. Im Folgenden präsentiere ich eine kleine, befreiungstheologisch interessierte Relecture seines Buches „Nietzsche et la philosophie“ (1962), die aus einem noch unveröffentlichten Vortrag stammt.
Praktiken der Freiheit
Im Hintergrund des Kommenden steht eine der aufregendsten Konstellationen des jüngeren Theoriediskurses. Vincent Descombes spricht in Le même et l’autre (1979) von den ‚drei H’, die eine ganze Generation französischer Philosoph:innen geprägt haben: Hegel, Husserl und Heidegger. Ihnen stellt er drei ‚Meister des Verdachts’ gegenüber: Marx, Nietzsche und Freud. Aus dieser Gesamtkonstellation werden im Folgenden zwei Denker herausgenommen und mit Deleuzes Hilfe in Beziehung gesetzt: Hegel und Nietzsche. Beschäftigt man sich mit ihnen, so wird die intellektuelle Luft schnell recht dünn. Aber die Sicht auf die Dinge dafür auch umso klarer. Der Aufstieg lohnt sich jedenfalls – insbesondere mit Blick auf eine philosophisch spätmodern inspirierte Befreiungstheologie, die sich etwas mehr zeitgenössische Theorie ins Gepäck holen möchte und sich dabei auch Deleuzes gegen Hegel gerichteten linken Nietzscheanismus bedient. Denn sie weiß mit Michel Foucault, der für die Zukunft ein „deleuzianisches“[3] Zeitalter der Immanenz eines unendlichen Rhizoms vorhersagte, um die Grenzen befreiender Praxis:
„Ich war immer etwas misstrauisch bei dem allgemeinen Thema der Befreiung […]. Ich will nicht sagen, dass es […] Befreiung nicht gibt: Wenn ein Kolonialvolk sich von seinem Kolonialherrn befreien will, ist das im strengen Sinn sicher eine Befreiungspraxis. Aber in diesem übrigens sehr präzisen Fall weiß man genau, dass diese Befreiungspraxis nicht ausreicht, um die Praktiken der Freiheit zu definieren, die anschließend nötig sind […]. Deshalb beharre ich mehr auf den Praktiken der Freiheit als auf den Befreiungsprozessen […]. Die Befreiung eröffnet ein Feld für neue Machtverhältnisse, das dann aber von den Praktiken der Freiheit kontrolliert werden soll.“[4]
1. Herrschaft oder Knechtschaft?
Die hegelianische Differenz von Herrschaft und Knechtschaft ist eine „Konstante des französischen Denkens seit [Alexandre] Kojève“[5], dessen legendäre Pariser Hegelvorlesungen in den 1930er Jahren unter anderem Georges Bataille, Jacques Lacan, Pierre Klossowski, Jean Hyppolite, Maurice Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir und Hanna Arend hörten – wobei in der französischen Hegelübersetzung maître et esclave kein Unterschied zur nietzscheanischen Differenz von Herrschaft und Sklaverei bemerkbar und für das Folgende somit eine „doppelte Begriffsklaviatur“[6] gegeben ist: Herr und Knecht bzw. Herr und Sklave. Gilles Deleuze bezieht sich 1962 in seinem Buch Nietzsche et la philosophie darauf. Mit Blick auf die Genealogie der Moral resümiert Descombes die Problemlage:
„Nietzsche zeichnet hier die Position des Herrn und des Sklaven. Der Herr sagt: ‚Ich bin gut, also bist du böse.’ Der Sklave sagt: ‚Du bist böse, also bin ich gut.’ Die Wertschätzung des Herrn geht von seinem Hochgefühl aus: ein Herr ist, wer […] sich als glücklich und gut bejaht, ohne sich dazu mit dem Anderen vergleichen […] zu müssen. […] So gesehen erscheint der Hegelsche Herr als ein Sklave […], weil er das Bedürfnis empfindet, sich vom Andern anerkennen zu lassen. Die Wertschätzung des Sklaven ist die umgekehrte des Herrn. Zunächst geht der Sklave vom Anderen und nicht von sich selbst aus: er hat nicht die Kraft, sich allein zu bejahen, er muss damit beginnen, dass er den anderen verneint. Er ist zu schwach, seine eigenen Werte zu schaffen […].“[7]
Äußerliche Sklaven können, was ihre Misere weder verändert noch abmildert, demzufolge so etwas wie innerliche Herren sein. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Haltung von Würde und innerer Unabhängigkeit (bis hin zur Überlegenheit) sind die afrikanischen Sklaven, insbesondere ihr Anführer Joseph Cinque, aus dem Kinofilm Amistad (1997), der auf einer historisch wahren Begebenheit basiert. Auf unsere Fragestellung gewendet: Kapitalismuskritik, die sich nur vom Unterdrückungssystem einer bestimmten Wirtschaftsordnung her definiert, bleibt im Sinne Nietzsches bei allem vielleicht sogar erfolgreichen Emanzipationsstreben letztlich doch Sklavenmoral.
Wille zur Bejahung des Positiven bzw. Verneinung des Negativen
Ein postkapitalistischer Nietscheanismus hingegen steht für eine (im Sinne von Rainer Buchers schöner Kurzformel[8]) ressentimentfreie und antihegelianische „Bejahung der Bejahung und Verneinung der Vereinung“[9] – wobei sich Bejahung und Verneinung „sowohl beim Herrn wie beim Sklaven“[10] finden:
„Das Ressentiment, die [bloße] Reaktivität nehmen ihre Bejahung aus der Verneinung. […] Die [hegelianische] Dialektik muss [Deleuze zufolge] […] als ‚Ideologie des Ressentiments’ gelten, weil sie annimmt, dass die Verneinung einer Verneinung gleich einer Bejahung ist. Die Philosophie, in der sich der souveräne Wille [= Nietzsches in sich selbst begründeter Wille zur Macht] ausdrückt, wird eine Philosophie des Ja sein.“[11]
Vincent Descombes grenzt dieses bejahende Denken Nietzsches ab gegen eine nihilistisch tatenlose Akzeptanz der negativen Verhältnisse:
„Deleuze beharrt darauf, dass es nicht darum geht, zu allem Ja und Amen zu sagen. Ganz im Gegenteil: ‚Das Ja, das nicht Nein zu sagen weiß’, ist die Bejahung des Nihilisten, weil er ‚Ja zu allem sagt, was Nein ist.’ Hier wissen wir nicht mehr: gibt es nun Negatives oder nicht? Oder ist das Negative [im nihilistischen, nicht aber im nietzscheanischen Denken] nur […] die sklavische Interpretation der […] Bejahung seiner Differenz durch den Herrn?“[12]
Rest von Ambivalenz
Gefordert ist ein echter Wille zur Bejahung des Positiven bzw. Verneinung des Negativen – wobei auch hier ein bleibender Rest von Ambivalenz nicht geleugnet werden kann:
„Die aktive Bejahung [erzeugt] […], indem sie ausschließlich die Bejahung bejaht, einen ‚Schatten der Verneinung’ [Gilles Deleuze]. Ihrerseits zeigen sich die reaktiven Verneinungen durch Bejahungen an: doch handelt es sich nur um das ‚Gespenst einer Bejahung’ [Gilles Deleuze]. Die aktive Kraft muss das verneinende verneinen, um das bejahende zu bejahen. Die [bloß] reaktive Kraft verneint unaufhörlich, auch wo sie […] unabhängige Werte zu schaffen scheint. Wie soll man [vor diesem Hintergrund nun aber] die bejahende Verneinung der ersten [aktiven Kraft] von der verneinenden Verneinung der zweiten [reaktiven Kraft] unterscheiden?“[13]
2. Gegensatz oder Differenz?
Man bricht erst dann mit der sklavischen Abhängigkeit von der Negativität, wenn ein klares „Prioritätsverhältnis zwischen dem Ja und dem Nein“[14] herrscht, das aktive Kräfte der Bejahung freisetzt und Deleuze zufolge zu einer weiteren Unterscheidung nötigt – nämlich der von Gegensatz und Differenz:
„Werden Bejahung und Verneinung einmal als Qualitäten des Willens zur Macht betrachtet, dann wird deutlich, dass ihr Verhältnis kein reziprokes ist. Die Verneinung steht im Gegensatz zur Bejahung, wohingegen die Bejahung von der Verneinung abweicht, differiert. Wir dürfen nicht die [nietzscheanische] Bejahung als eine solche denken, die ihrerseits zur Verneinung ‚im Gegensatz steht’. Das hieße, das [hegelianisch] Negative in sie einzuführen.“[15]
Nicht Gegensatz, sondern Differenz
Das Verhältnis von Bejahung und Verneinung ist kein Gegensatz, sondern eine Differenz – wobei beide Begriffe ihrerseits eine nietzeanisch-aktive Differenz und keinen hegelianisch-reakiven Gegensatz darstellen:
„Die Differenz, die wir suchen, ist die zwischen der Differenz und dem Gegensatz. Der Sklave interpretiert alle Differenzen als Gegensätze. Der Herr sieht keinen Gegensatz, wo eine Differenz besteht. […] Vom Gesichtspunkt der Bejahung ist die Verneinung nicht das Gegenteil der Bejahung. Das Nein setzt sich dem Ja nicht entgegen, sondern zeigt eine Differenz an. […] Wenn vom Gesichtspunkt der Bejahung das Verhältnis von Bejahung und Verneinung eines der (nicht negativen) Differenz und nicht des Gegensatzes ist, so folgt, dass der Herr nie die Verneinung als negative wahrnimmt. Wenn er den Sklaven verneint, setzt seine Verneinung sich nicht der Bejahung des anderen entgegen, sondern geht aus seiner eigenen Bejahung hervor, die sich von der des anderen unterscheidet: diese bejahende Verneinung ist nichts anderes als die Bejahung der Differenz zwischen zwei Bejahungen (der des Herrn und der des Sklaven).“[16]
Der Herr kann demzufolge in der „Verneinung des Sklaven keinen Gegensatz zu seiner eigenen Bejahung“[17] erkennen:
„Hätte er den Verdacht, der Sklave stünde im Gegensatz zu ihm, so verlöre der Herr seine Souveränität und träte mit dem Niedrigeren in Rivalität. […] Auf keinen Fall darf der Herr wissen, dass der Sklave reine Verneinung ist, sondern muss die sklavischen Verneinungen für andere Bejahungen halten. Umgekehrt versagt die Niedrigkeit des Sklaven ihm [= dem Sklaven], die Vornehmheit des Herren zu sehen. Der Sklave kann nicht wissen, dass die Verneinungen des Herrn Bejahungen sind. Vom Gesichtspunkt der Verneinung steht die Bejahung zur Verneinung im Gegensatz. Ebenso ist der Sklave blind für das, was aus der aktiven Verneinung eine andere Bejahung macht: er sieht darin nur die Zerstörung, der er sich […] widersetzen muss.“[18]
3. Bejahung oder Verneinung?
Hier wird mit der nichtgegensätzlich strukturierten Differenz von Differenz und Gegensatz eine weitere Unterscheidung Deleuzes wichtig:
„Das von Deleuze vorgeschlagene Kriterium verlangt, dass sich das Verhältnis des Herrn zum Sklaven nicht mit dem des Sklaven zum Herrn zur Deckung bringen lässt. Auf der einen Seite ist es ein Differenzverhältnis, auf der anderen ein Gegensatzverhältnis. […] Man kann nun noch sagen: Vom Gesichtspunkt der Bejahung [= dem Standpunkt der Herren] aus ist die Nicht-Identität von Differenz und Gegensatz kein Gegensatz, sondern eine Differenz; vom Gesichtspunkt der Verneinung aus [= dem Standpunkt der Sklaven] ist dieselbe Nichtidentität ein Gegensatz. Und die Nicht-Identität dieser beiden Interpretationen lässt sich ihrerseits mal [in der Perspektive der Herren] als Differenz und mal [in der Perspektive der Sklaven] als Gegensatz interpretieren.“[19]
Entscheidend ist echter Kontakt zwischen einem sich selbst in Differenz bejahenden Herren und einem ihn im Gegensatz verneinenden Sklaven:
„An dem Tag, an dem dieser so selbstsichere Herr nicht auf einen anderen Herrn […], sondern auf einen Sklaven trifft, erfährt der die Differenz zwischen einem Herrn und einem Sklaven, zwischen einer Differenz und einem Gegensatz. Von dem Tag an ist ihm klar, das das, was er im Sklaven verneint, nicht eine andere Bejahung ist, sondern genau die Verneinung seiner Bejahung. Er weist die Verneinung seiner selbst durch den Sklaven zurück. Diese Entdeckung schwächt ihn, und es naht der Tag, da der Herr im Sklaven seinesgleichen erblickt und ihn emanzipiert. Wie soll man auch nach einigen Zusammentreffen von Bejahung und Verneinung noch wissen, ob das Nein, das einer der Gegner ausspricht, dem Ja vorausgeht oder folgt?“[20]
Anti-Hegelianismus als roter Faden
Damit lässt sich das existenzielle Kräfteverhältnis von Herren und Sklaven nietzscheanisch rekonstruieren – und das heißt nicht im hegelianischen Gegensatz von Herren und Knechten. Ein entsprechender Anti-Hegelianismus durchzieht als „roter, agressiver Faden“[21] das gesamte Denken Friedrich Nietzsches: „Zwischen Hegel und Nietzsche ist jeder Kompromiss ausgeschlossen.“[22] Für Deleuze steht in dieser Differenz hegelianisches Repräsentations- gegen nietzscheanisches Differenzdenken:
„Das berühmte dialektische Moment der Beziehung von Herr und Knecht hängt […] davon ab: dass die Macht in ihr nicht als Wille zur Macht, sondern als […] Repräsentation der Überlegenheit […] begriffen wird. Was die Wollenden bei Hegel wollen, ist die Anerkennung, die Repräsentation ihrer Macht. Nur geht darin, Nietzsche zufolge, eine vollkommen irrige Konzeption des Willens zur Macht […] ein. Eine solche Konzeption ist die des Sklaven […]. Der Sklave ist es, der die Macht nur als Gegenstand einer Anerkennung, Materie einer Repräsentation […] begreift […]. […] Aus dem Hegelschen Bild des Herrn bricht allenthalben der Knecht hervor.“[23]
4. Esel oder Löwe?
Nietzsches „Umwertung der Werte“[24] bedeutet für Deleuze einen „Qualitätswechsel im Willen zur Macht“[25], der zu einer „Umwertung der Kräfteverhältnisse“[26] im Widerstreit von Negation und Affirmation führt:
„Die Werte […] entspringen nicht mehr dem Negativen, sondern der Affirmation als solcher. An Stelle es zu entwerten, wird das Leben bejaht […]. […] Das Negative […] unterwirft sich der Bejahung, stellt sich in den Dienst eines Zuviel von Leben. […] Allein die Bejahung überlebt als unabhängige Macht […]. […] Die Bejahung erwirkt das Aktiv-Werden als universelles Werden aller Kräfte. Darin werden alle reaktiven Kräfte verneint, und alle Kräfte werden zu aktiven. Die […] Entwertung reaktiver und die Einsetzung aktiver Werte bilden gleichermaßen Operationen, die […] die Konversion des Negativen in Bejahung zur Voraussetzung haben.“[27]
Wille zur Macht
Verneinung und Bejahung sind Deleuze zufolge „zwei Qualitäten des Willens zur Macht“[28]: „Jede stellt das Gegenteil der anderen, aber zugleich das Ganze dar, das den anderen Gegensatz ausschließt.“[29] Nietzsches eigene (und in seiner Spur auch Deleuzes) Option ist klar: es ist ganz eindeutig die Bejahung – allerdings keine in reaktiver Passivität schicksalsergebene Bejahung. Eine besondere Rolle in Nietzsches einschlägigen Tieranalogien spielt daher auch der „I-A-schreiende Esel“[30], ein duldsames Lasttier, dessen Bejahung im Sinne eines willigen „Auf-sich-nehmen“[31] für ihn kein Vorbild darstellt:
„Das Ja des Esels ist falsch: ein Ja, das nicht nein zu sagen weiß. […] Das Ja […] des Esels […] stellt eine Karikatur der Bejahung dar. Gerade weil es zu allem Ja sagt, was Nein ist […], bleibt es dem Willen zur Verneinung […] untertan, dessen ganze Lasten es trägt. […] Bejahen heißt schaffen – nicht tragen, ertragen, auf sich nehmen.“[32]
Für Nietzsche ist das Gegenbild zum Esel der Löwe. Er steht für eine Fähigkeit der Verneinung als „Macht zum Jasagen“[33], die „Freiheit sich [zu] schaffen“[34] vermag. In dieser Spur ist lebensbejahende Befreiung möglich:
„Bejahen ist […] wertschätzen, aber von einem Willen aus, der seine eigene Differenz im Leben genießt, statt an den Schmerzen des Gegensatzes zu leiden […]. Bejahen heißt nicht sich aufladen, sondern das, was lebt, entbinden, befreien.“[35]
Verneinung als bejahende Macht im Menschen
Mit Deleuze lässt sich resümieren:
„Man wird im Denken Nietzsches keinen Widerspruch ausmachen: Einerseits verkündet er die […] Bejahung, die von keiner Verneinung beschmutzt werden kann. Andererseits prangert er die Bejahung des Esels als eine solche an, die nicht Nein sagen kann […]. In dem einen Fall lässt die Bejahung nichts mehr von der Verneinung als einer autonomen Macht […] übrig. In dem anderen Fall jedoch vermöchte die Bejahung niemals […] vollkommen werden, ließe sie es nicht zu, dass das Negative gleichermaßen aus ihr folgt und ihr vorausgeht. Es handelt sich hier zweifellos um Verneinungen, freilich um Verneinungen als Mächte zum Jasagen. Niemals würde die Bejahung sich selbst bejahen können, kündigte zuvor nicht die Verneinung ihr Bündnis mit den reaktiven Kräften auf und würde zur bejahenden Macht im Menschen […].“[36]
Die Verneinung muss ein Bündnis mit den aktiven Kräften der Bejahung eingehen. Deren Ja ist dann keine blinde Ergebung in das Schicksal, vielmehr ist es eine in Freiheit aktive und nicht in passiver Duldsamkeit reaktive Bejahung. Nur so kann die Macht des Negativen gebrochen werden:
„Unter der Herrschaft der Bejahung allein wird das Negative auf eine höhere Stufe emporgehoben […] und lebt weiter, nicht als Macht […], sondern als Seinsweise dessen, der mächtig ist. […] Zu sehen ist, […] wem [Nietzsche] […] sich entgegenstellt: nämlich einer jeden Form des Denkens, die sich der Macht des Negativen anheimgibt.“[37]
Esel im Löwenfell
Nietzsche identifiziert Hegel als einen Esel „unter dem Fell des Löwen“[38]:
„[Hegel ersetzt] […] die Bejahung der Bejahung durch die berühmt-berüchtigte Negation der Negation. […] Das Ressentiment bedarf […] zweier Verneinungen, um nur das Phantom einer Bejahung hervorzubringen […]. […] Die dialektische Positivität ist das Ja des Esels. […] Gegen die Last des Negativen [setzt Nietzsche] die Leichtigkeit des Bejahenden; gegen die Arbeit der Dialektik die Spiele des Willens zur Macht, gegen jene famose Negation der Negation die Bejahung der Bejahung. […] Die Negativität als Negativität des Positiven macht einen Teil der antidialektischen Funde Nietzsches aus. Von der Umwertung [aller Werte] gilt, dass sie die ewige Wiederkehr bedingt wie dass sie […] von dieser abhängt. Denn wiederkehren lässt der Wille zur Macht nur, was bejaht wird: er […] wandelt das Negative um und zeugt wieder die Bejahung.“[39]
5. … und die Befreiungstheologie?
Eine von Gilles Deleuzes antihegelianisch-linkem Nietzscheanismus inspirierte christliche Befreiungstheologie bedingt und ermöglicht eine nichtpaternalistische, mitleidfreie Zuwendung zu Menschen in versklavenden politischen Kräfteverhältnissen. Sie agiert aus Stärke (und macht stark), nicht aus Mitleid. Man darf die beiden Positionen von Herren und Sklaven dabei weniger als Aussagen über den sozialen Status ansehen, sondern vielmehr als innere Haltungen. Es gibt materiell reiche Menschen, die würdelose Sklaven ihrer Lebensverhältnisse sind, ebenso wie materiell arme Menschen, denen die Souveränität von würdevollen Herren eignet.
Räume wirklicher Freiheit
Äußere Sklaven müssen daher im Sinne von Foucaults eingangs zitierten ‚Praktiken der Freiheit’ innere Herren werden – nur so wird eine äußere, politische Befreiung möglich. Denn nur so kommt man von koabhängigem Reagieren zu freiem Agieren, von koabhängigem Verneinen zu freiem Bejahen. Denn auch (befreiungs-)theologisch geht es nicht darum, Herren im Sinne Hegels zu sein, sondern im Sinne Nietzsches – nur so kann man den Gegensatz von Herren („maîtres“) und Knechten bzw. Sklaven („esclaves“) dauerhaft überwinden. Nur dieser Weg führt aus den Binaritäten asymmetrisch vermachteter Orte hinaus in Räume wirklicher Freiheit.
[1] Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, München 2016.
[2] Christian Bauer: Repräsentanten Christi? Pastoraltheologische Dekonstruktion einer klerikalen Argumentationsfigur, in: Johanna Rahner, Margit Eckholt (Hg.): Christusrepräsentanz. Zur aktuellen Debatte um die Zulassung von Frauen zum priesterlichen Amt (QD 319), Freiburg/Br. 2021, 386-411.
[3] Michel Foucault: Dits et Écrits I (1954-1975), Paris 2001, 944.
[4] Michel Foucault: Dits et Écrits II (1976-1988), Paris 2001, 1528f.
[5] Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich (1933-1978), Frankfurt/M. 1981, 187.
[6] Descombes: Das Selbe und das Andere, 187.
[7] Descombes: Das Selbe und das Andere, 190.
[8] Ressentiment ist „Selbstkonstitution durch Fremddenunziation.“ (Rainer Bucher: Entmonopolisierung und Machtverlust, 21 – siehe auch Ders.: Nietzsche lesen!).
[9] Descombes: Das Selbe und das Andere, 191.
[10] Descombes: Das Selbe und das Andere, 191.
[11] Descombes: Das Selbe und das Andere, 191.
[12] Descombes: Das Selbe und das Andere, 191.
[13] Descombes: Das Selbe und das Andere, 192.
[14] Descombes: Das Selbe und das Andere, 192.
[15] Descombes: Das Selbe und das Andere, 193.
[16] Descombes: Das Selbe und das Andere, 193f.
[17] Descombes: Das Selbe und das Andere, 194.
[18] Descombes: Das Selbe und das Andere, 194.
[19] Descombes: Das Selbe und das Andere, 194f.
[20] Descombes: Das Selbe und das Andere, 197.
[21] Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991, 13.
[22] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 210.
[23] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 15.
[24] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 190.
[25] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 190.
[26] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 191.
[27] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 190f.
[28] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 191.
[29] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 191.
[30] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 192.
[31] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 199.
[32] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 193; 199f.
[33] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 199.
[34] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 200.
[35] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 200.
[36] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 193.
[37] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 194.
[38] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 211.
[39] Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 211ff
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