Fallschirm-Pull

Fallschirm-Pull

Auf den ersten Blick nicht mehr als nur ein Stück Plastik. Materialwert knapp über Null. Für mich ist dieser ‚Pull‘ aus billigem Plastik, den man beim Fallschirmspringen zieht, um den Schirm zu öffnen, jedoch weit mehr. Die Erinnerung an eines der schönsten Abenteuer meiner Jugend, bei dem ich im Sommer 1998 – also vor genau 25 Jahren – auf einem Accelerated-Freefall-Kurs am Bodensee zusammen mit einem meiner ältesten und besten Freunde (“Top Gun” ;-)) wirklich an meine persönlichen Grenzen gegangen bin.

Denn eigentlich habe ich ziemlich Höhenangst. Fallschirmspringen lernen wollte ich (zusätzlich zum Reiz des Nervenkitzels) unter anderem, um diese Angst zu überwinden. Das hat allerdings nicht besonders gut geklappt. Denn wenn man aus 4.000 Meter Höhe aus einem Flugzeug springt, dann dort oben ist alles so unwirklich, dass man sich eigentlich nur auf die hundertfach eingeübten Routinen und Handgriffe konzentriert.

Sakrament des Zigarettenstummels

Geklappt hat allerdings, dass ich alleine, d. h. mit einem Sprunglehrer an der Seite, der im Notfall hätte eingreifen können, gesprungen bin: fast eine Minute Freifall, dann Gleitflug bis zu Landung. Erst ganz laut und dann ganz leise. Das Landen war in meinem Fall übrigens denkbar unelegant: im Maisfeld. Nun ja. Aber eine absolut geniale Erfahrung war es trotzdem. Und meinen selbstgezogenen Pull von damals habe ich mir aufgehoben als Selbsterinnerung daran, dass man bisweilen durchaus über sich hinauswachsen kann.

Er hat heute einen Ehrenplatz in meinem persönlichen Reliquienschrein. Denn er ist für mich fast so etwas wie der berühmte Zigarettenstummel in Leonardo Boffs „Kleiner Sakramentenlehre“: ein sakramentales Artefakt, dessen nicht allzu wertvolle Materie durchscheinend wird für eine heilige, d. h. für eine andere und tiefere Dimension der Wirklichkeit. Mehr dazu habe ich in diesem Buch geschrieben: Dinge, die bleiben.

Rahner und der Pull

Ein Jahr später hat mein Fallschirm-Pull mir übrigens die mündliche Prüfung beim damaligen Würzburger Fundamentaltheologen Elmar Klinger gerettet, den die einen Studierenden fürchteten (nicht wenige) und die anderen (wie ich) verehrten. Man konnte in die Prüfung immer mit einem selbstgewählten Einstiegsthema beginnen. Wenn es Klinger interessierte, war man fein raus. Wenn nicht, dann hatte man Fragen vom Kaliber „Was ist Gott?“, „Was ist die Kirche“ oder „Was ist Offenbarung?“ zu erwarten.

Ich wählte das Spezialthema „Fallschirmspringen und Karl Rahner“ und legte Professor Klinger den genannten Pull sowie eine Erstausgabe von „Hörer des Wortes“ auf den Schreibtisch und sagte: Ich erzähle ihnen jetzt, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Schmunzeln bei Hans-Joachim Sander, der als Assistent mit dabeisaß. Es ist gut gegangen: Klinger hat angebissen, wir sprachen über das übernatürliche Existenzial und die anthropologische Wende. Und dann auch über die Frage „Was ist Offenbarung?“.

Freier Fall ins Glück

Heute taucht mein Pull hin und wieder in Vorlesungen auf. Meist im Zusammenhang mit Maurice Blondel, dessen an der Differenz von volonté volue und volonté voulante ansetzende Dissertation L’action (1893) in Frankreich das theologische 20. Jahrhundert eröffnete. Auf dieser existenziellen Sehnsuchtsspur bewegten sich nicht nur Karl Rahner und die großen Denker der Nouvelle théologie, denselben „Weg einer Immanenzapologetik“ (Elmar Klinger) hat später auch das Zweite Vatikanum beschritten:

„Im Menschen selbst liegen einander widerstrebende Kräfte im Streit. Während er sich einerseits […] als auf vielfache Weise als begrenzt erlebt, fühlt er sich doch andererseits in seinen Sehnsüchten auch unbegrenzt […]. […] Die Kirche weiß […], dass Gott […] allein die Antwort auf das tiefste Sehnen des menschlichen Herzens ist, das sich an den Gaben der Erde nie voll sättigen kann. […] Immer wird der Mensch zumindest ahnungsweise das Verlangen in sich tragen, zu wissen, was die Bedeutung seines Lebens, seines Schaffens und seines Todes ist.“

(GS 10; 41)

Rückblickend ist mir klar, dass mein damaliger Fallschirmsprung das doch recht begrenzte Abenteuer einer wohlsituierten Jugend war – aufgewachsen im Schutzraum einer damals noch unfassbar behüteten Mittelschicht. Keine wirkliche existenzielle Herausforderung, keine grundstürzende Grenzerfahrung. Nichts wahrhaft Mutiges, das Astrid Lindgrens Forderung in Die Brüder Löwenherz entspricht: „Manchmal muss man etwas Gefährliches tun, weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck“. Und doch ein Erlebnis, das ich keinesfalls missen möchte – als verborgene Spur des desiderium naturale eines intensiven Lebens: Sehnsucht nach dem freien Fall ins Glück.