Burg Schreckenstein

Burg Schreckenstein ist ein Traum von Schule: Freiheit, Freundschaft, Abenteuer. Und jede Menge Spaß in einer alten Ritterburg. Eine reformpädagogische ‘Laborschule’ der besonderen Art. Oliver Hassencamps vielbändige, nicht nur von mir begeistert gelesene Jugendbuchreihe wird in diesem Jahr stolze 65 Jahre alt. Ist Burg Schreckenstein damit pensionsreif? Ich denke, es ist noch zu früh für’s Altenteil!

Bücher wie Freunde

Die Bücher mussten bei jedem Umzug unbedingt mit. Sie begleiten mich wie gute Freunde seit über vierzig Jahren. Genauer: seit ich 1983 zu meiner Erstkommunion einen ersten Band geschenkt bekam. Es war Sammelband 6 („Die Superstreiche von Schreckenstein“), in dem die Schreckensteiner eine Partnerschule in Schottland besuchen – geschenkt von Tante Agnes und Onkel Ludwig. Danach habe ich mir alle weiteren Bände entweder selbst gekauft oder schenken lassen, so dass ich heute alle 27 Schreckenstein-Bücher besitze.

Oliver Hassenkamp (1922-1988) hat sie in einem Zeitraum von fast dreißig Jahren geschrieben: vom ersten Band aus dem Jahr 1959 bis zum letzten Buch von 1988. Und ich habe jeden einzelnen dieser Bände verschlungen. Ganz klassisch: nachts, mit der Taschenlampe unter der Bettdecke – als mein eigener kleiner Streich im Geiste der in den Büchern erzählten nächtlichen Schreckensteiner Streiche. Noch heute sind diese Jugendbücher auch für Erwachsene ein geradezu perfekter Zeitvertreib, wenn man einmal krank im Bett liegt.

Identifikationsfigur Stefan

Als zunächst sehr schüchternes Kind habe ich mich in den Ritterrat hineingeträumt. Dort traf ich dann unter anderem Ottokar, den technikbegabten Schulkapitän, Stefan, auf den ich gleich noch zu sprechen komme, Mücke, den kleinen, aber schlagfertigen Chef der Schulzeitung, Dampfwalze, den Muskelprotz mit Spatzenhirn, Hans-Jürgen, den Dichter, Klaus, den Witzbold, Dieter, den Bedenkenträger, Andi, den Rennradfahrer. Außerdem gab es auf der Burg auch noch Strehlau, den klavierspielenden Streber, Pummel und Eugen, die Segelkünstler und Wasserwarte. Und natürlich die vier Mini-Ritter Kuno, Herbert, Egon und Eberhard.

Besonders gut konnte ich mich immer mit Stefan (Breuer) identifizieren – einem herausragenden Leichtathleten und dem Gitarrenspieler der Horror-Rock-Band. Stefan kam in einem der erste Bände von außen auf die Burg. Er war nicht nur redegewandter und diplomatischer als sein bester Freund Ottokar, sondern auch offener für die Zusammenarbeit mit den Mädchen von Schloss Rosenfels – bis hin zu einer Liaison mit der temperamentvollen Rosenfelserin Beatrix, deren wilde Locken ihr den Namen „Wuschelkopf“ eintrugen (dieser erinnert an den niederländischen Spitznamen „Krullebol“ meiner Frau, was nicht die einzige Gemeinsamkeit ist).

… und heute?

Meine Kinder (kennen und lieben) eher die beiden Kinofilme von 2016 und 2017 mit der genialen Musik von Sportfreunde Stiller als die von mir immer wieder (und vielleicht auch ein wenig zu oft) empfohlenen Bücher. Möglicherweise hat das auch mit einem gewissen Gender-Gap der darin erzählten Geschichten zu tun. Als Internat-Buchreihe ist Burg Schreckenstein das männlich-geschlechterkomplementäre Pendant zu Hanni und Nanni – vielleicht auch deshalb hatte ich irgendwann die Idee, zusammen mit meiner Tochter die von einem männlichen Blick auf die Welt geprägten Schreckenstein-Geschichten auch einmal aus Rosenfelser Perspektive zu schreiben. Mit Beatrix, Sophie und Ingrid in den Hauptrollen und Ottokar, Stefan und Dampfwalze als Sidekicks.

Generell habe ich eine Schwäche für Schulgeschichten, von denen man auch für die Didaktik universitärer Lehr-Lernprozesse lernen kann. Berührende Filme wie „Club der toten Dichter“ oder sein weibliches Pendant „Mona Lisas Lächeln“. Reihen wie die pädagogisch unterschätzte Trilogie „Fack ju Göthe“ oder die wunderbare niederländische Filmreihe „Mister Twister“. Den starken Fußballfilm „Der ganz große Traum“ oder auch die beiden Musikfilme „Sister Act 2“ und „Die Kinder des Monsieur Mathieu“. Immer geht es darum, dass Menschen über sich hinauswachsen und aufrecht gehen lernen, zu sich und zueinander finden – und sich ihr Leben zum Guten wendet.

Der Autor

Oliver Hassencamp besuchte bis zum Abitur selbst ein berühmtes Internat: Salem am Bodensee. Sicherlich steckt in Burg Schreckenstein einiges von Schloss Salem. Das beginnt bereits mit der Landschaft, die an Oberschwaben erinnert (auch Namen wie Kappelsee, Wampoldsreute oder Krumplingen weisen darauf hin). Hassencamp inszenierte im Internat selbstverfasste Theaterstücke und gründete eine Jazzband. Als junger Erwachsener wurde er dann in die Wehrmacht eingezogen und in Russland schwer verletzt.

1945 studierte Hassencamp zunächst in München und wurde Mitglied des Kabaretts Die Schaubude. Zusammen mit Trude Kolman und Erich Kästner (dessen Fliegendes Klassenzimmer ich ebenso liebe) gründete er 1950 das politische Kabarett Die kleine Freiheiit. 1956 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Man spürt diese Prägung noch heute am klugem Sprachwitz seiner Schreckenstein-Bücher. Zahlreiche Wendungen gehen ins Ohr, bleiben im Kopf und sind noch Jahrzehnte später abrufbar.

Nach diversen Arbeiten für Fernseh- und Kinoproduktionen entschied sich Hassencamp, als freier Schriftsteller nur noch Bücher zu schreiben. Besonders erfolgreich wurde seine Schreckenstein-Reihe, die unter anderem ins Englische, Chinesische, Thailändische, Niederländische und Spanische übersetzt wurde. Seit 1967 war er mit der Regisseurin Eva Hassencamp verheiratet und lebte in München bzw. im Chiemgau. Bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall bei Waging am See kamen beide 1988 ums Leben.

Timeline synchroner Dauer

Auf Burg Schreckenstein scheint die Zeit still zu stehen. Die Mitglieder des Ritterrates sind hier immer die Ältesten, die Minis immer die Jüngsten. Anders als bei Harry Potter altern die Protagonist:innen hier nicht im Fortgang ein linear fortschreitenden Erzählung. Die Geschichten folgen einer floating timeline. Obwohl sie während einer Zeitspanne von fast dreißig Jahren geschrieben wurden, handeln sie stets in einer auf Dauer gestellten Jetztzeit. Zeit ohne Geschichte. Ein Kontinuum synchroner Dauerhaftigkeit.

Und doch spürt man auch hier den Wandel der Zeit. Die Geschichten sind nicht vollkommen zeitlos und geschichtsfern. Das Schreckenstein des Jahres 1959 Ist ein anderes als das des Jahres 1988. Man erkennt das sofort am ‚Äußerlichen‘ der Bücher: an den Frisuren der darin auffindbaren Zeichnungen von Rittern und Mädchen, aber auch an der wechselnden Ästhetik der Coverbilder (mich haben die poppig-bunten Bilder der 1970er Jahre als kraftvolles und zugleich emanzipatorisches Zeitkolorit in die Reihe hineinsozialisiert).

Man erkennt es aber auch an den Geschichten selbst. Die Bände spiegeln alltagskulturelle Zeitgeschichte (z. B. in den darin erwähnten technischen Geräten). Auch die Sprache der Bücher (z. B. die zeitbedingt wechselnden jugendsprachlichen Zitate) wandelte sich im Lauf der Zeit – bis dahin gehend, dass sich dieser geschichtliche Wechsel als unterschiedliches Zeitkolorit sogar in sich wandelnde Titel der Bücher einschreibt: Hieß der erste Band der Reihe zunächst noch in zeittypischer Nachkriegsdiktion der 1950er Jahre Die Jungens von Burg Schreckenstein (1959), so wurde er später in Die Jungen von Burg Schreckenstein verändert.

Anderswie im Anderswo

In dieser erzählerischen Wiederkehr des Zeitgleich-Gleichzeitigen scheint in stets neuem Gewand etwas auf, das sich mit Michel Foucault als ein „Heterotop“ der gängigen Schullandschaft beschreiben lässt: ein fremdortiges Anderswo, das zugleich ein fremdartiges Anderswie des Lernens ermöglicht. Eine Pädagogik, die nicht auf Zwang und Strafe, sondern auf Freiheit und Eigenverantwortung setzt (anders als in der Dystopie der autoritären Schreckensherrschaft von Dolores Umbridge in Joan K. Rowlings Zauberschule Hogwarts).

Die Bücher entführen in eine heterotope Schulwelt, in welcher die Jungen (‘heterochrone’ Selbstbezeichnung: „Ritter“) von Burg Schreckenstein eine verschworene Schulgemeinschaft bilden – inklusive ziemlich cooler Lehrer, die ihnen alle Freiheiten lassen. Im Gegenzug geben sich die Schüler selbstverantwortet einen ritterlichen Ehrenkodex. Bei nächtlichen Streichen darf nichts beschädigt und niemand verletzt werden. Und Schreckensteiner rauchen und trinken nicht, sie lügen nicht und schreiben nicht voneinander ab.

Reformpädagogische ‘Laborschule’?

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Schulerfahrungen in Salem inszeniert Hassencamp die Burg als eine reformorientierte Musterschule – eine spätromantische Wiederverzauberung des Schullebens im Geist alternativer pädagogischer Aufbrüche der Zwischenkriegszeit:

„Es sollten keine Opportunisten, sondern […] Menschen erzogen werden, die lernen, für eine Sache und für sich selbst einzustehen. […] Schwerpunkt des Erziehungskonzepts war die Charakterbildung […].“ (Oliver Hassencamp).

Das pädagogische „Machtgefälle“ zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen wird im Sinne einer egalitären Schulgemeinschaft „außer Kraft gesetzt“ (Aleta-Amirée von Holzen):

„Lehrer und Schüler […] wurden zu Partnern […]. Die jungen Menschen sollten sich auch in erster Linie selbst erziehen, die Erwachsenen wollten Hilfestellung geben, wenn es unbedingt nötig wurde, sonst aber traten sie zurück […].“ (Aleta-Amirée von Holzen).

Im Band Dicke Luft auf Schreckenstein von 1983 besuchen Bildungsexpert:innen die Burg. Die fünfköpfige Gruppe möchte lediglich ihre bereits vorgefasste (negative) Meinung bestätigt sehen möchte und greift dabei auch zu unlauteren Mitteln. Direktor Meyer („der Rex“) kommentiert:

„In Fachkreisen hat sich offenbar herumgesprochen, dass bei uns verschiedenes anders ist als in anderen Schulen und besser funktioniert. Wie das in der Praxis aussieht, möchte die Gruppe studieren. Sie betrachten Schreckenstein sozusagen als Modell.“

Kritik an Burg Schreckenstein

Die Burg hat aber auch in der nichtliterarischen Welt kritische Rückfragen auf sich gezogen – zum Beispiel als pädagogische Utopie mit kommunitaristischer Schlagseite von Niklas Bender in der FAZ: „Im Vordergrund steht die Gemeinschaft, das Individuum und der Konfliktfall sind Ausnahmen, Abweichler nicht erwünscht“. Oder auch von der Literaturwissenschaftlerin Aleta-Amirée von Holzen:

„Kern des Schreckensteiner Ideals ist der Gemeinschaftsgedanke. […] Das Ideal der Gemeinschaft […] beinhaltet einen Zwang zur Gleichmacherei, die wenig Spielraum erlaubt.“

Ich selbst bin ein großer Freund von individueller Freiheit, von Differenz und Dissidenz. Gerade als solcher habe ich ‚Schreckenstein‘ jedoch immer als einen permanenten, konfliktiven Aushandlungsprozess von Individualität und Sozialität gelesen. Besonders deutlich wird das im Kontrast zu dem Mädcheninternat Schloss Rosenfels. Dieses liegt nicht nur in symbolischer Weise auf der anderen Seite des Sees, sondern wird in einer bewussten „Stilisierung der Polarität von Schreckenstein und Rosenfels als zwei unvereinbare pädagogische Modelle“ auch als ein autoritäres „innerliterarisches Gegenmodell“ (Aleta-Amirée von Holzen) profiliert.

Gegenstrebige Fügung

Schreckenstein und Rosenfels bilden allein schon (aber nicht nur) in der unterschiedlichen Semantik ihres jeweiligen Namens eine „gegenstrebige Fügung“ (Jacob Taubes). Für diese gilt ‚dem Rex‘ zufolge die Einsicht: „Ihr gehört zusammen, weil ihr euch gegenseitig in Frage stellt“. Mit Carl Schmitt gesprochen, der an diesem Punkt vollkommen Recht hat: Der Gegner ist auch hier „die eigene Frage als Gestalt“.

War der Kontrast beider Schulsysteme im Band Die Schreckensteiner auf der Flucht (1969), in dem die Ritter aufgrund einer ausgefallenen Heizungsanlage nach Schloss Rosenfels umziehen mussten, noch eher lustig und nur indirekt programmatisch gezeichnet, so wird er keine zehn Jahre später in dem Band Verschwörung auf Burg Schreckenstein (1977) ins Grundsätzliche hinein konzeptualisiert.

In diesem Band müssen die Schülerinnen von Rosenfels wegen dringend notwendiger Renovierungsarbeiten am Fundament der Schule (Symbolik!) auf die Burg übersiedeln. Das Schreckensteiner Schulmodell steht damit vor einer besonderen Bewährungsprobe. Wie die weltpolitischen Supermächte des Kalten Krieges, so sind nun auch diese beiden (Schul-)Systeme zu „friedlicher Koexistenz“ gezwungen. In einer Rede spielt der Rex auf den Reformbedarf einer in ihren Grundlagen morsch gewordenen Old-school-Pädagogik an:

„Die Zeiten ändern sich […] und mit ihnen die Umstände. Rosenfels ist baupolizeilich gesperrt worden. Das Fundament gibt nach. Ob das Gebäude zu retten ist, kann im Augenblick noch niemand sagen. […] Wir werden uns umstellen […] müssen. […] Ist Schreckensein so gut, wie wir glauben, muss es sich jetzt erweisen. […] Ich möchte die neue Situation mit einem Parlament vergleichen: Wir werden in ständiger Auseinandersetzung leben und uns über alles einigen müssen. Dieses tätige Miteinander hat einen anspruchsvollen Namen: Demokratie.“

Schwer demokratisch

Aber nicht nur das Fundament von Schloss Rosenfels ist in Gefahr, sondern auch die Identität von Burg Schreckenstein – eine Herausforderung, auf die die Ritter gespalten reagieren. Während die einen für eine Öffnung zu den Mädchen plädieren, sprechen sich die anderen für eine klare Trennung aus. Wortführer beider Parteien sind ausgerechnet die beiden Freunde Ottokar und Stefan. In einem Kapitel unter der Überschrift „Schwer demokratisch“ artikulieren sie ihre Positionen – zunächst Schulkapitän Ottokar:

„Mir geht es um unsere Schule. Ich möchte, dass sie so bleibt, wie sie war. Das heißt vor allem, dass wir so bleiben und nicht unsere Eigenart aufgeben, bloß weil jetzt die Mädchen da sind. Rosenfels ist anders. […] Die lügen und rauchen und verpetzen einander, und was weiß ich noch… […] Das alles können sie von mir aus weitermachen. Drüben bei sich. Aber nicht bei uns. […] Deswegen bin ich dafür, die beiden Schulen auseinanderzuhalten.“

Sein Zimmergenosse Stefan reagiert auf diese Option für eine identitätserhaltenden Trennung mit einer Position der selbstbewussten Öffnung:

„Auch mir geht es nur um unsere Burg […]. Ich sehe aber keine Gefahr. Ich glaube, dass wir so bleiben, wie wir waren. Auch wenn jetzt die Mädchen da sind […]. Das muss unsere Eigenart verkraften. Sonst ist sie nichts wert. Die Mädchen sind da. Tatsache. Punkt. […] Überall auf der Welt gibt es Raucher und Nichtraucher, Leute, die lügen und andere, die die Wahrheit sagen und die trotzdem miteinander […] auskommen. […] Nur so können wir die […] Mädchen überzeugen, dass wir recht haben, so, wie wir […] leben.“

Ähnlichkeiten dieser fiktiven innerschulischen Debatte mit dem ’richtigen Leben’ sind sicherlich nicht rein zufällig. Auch in Kirche und Gesellschaft geht es heute (und immer wieder) um dieselben alltagspolitischen Fragen von Schließung und Öffnung, Bewahrung und Veränderung:

„Am Neuen muss sich das Alte bewähren, ob es noch trägt oder nur Gewohnheit ist.“


Foto Oliver Hassencamp: Georg Goebel/picture-alliance/dpa