250 Jahre Pastoraltheologie

Es gibt nicht viele theologische Fächer, bei denen man ein genaues Geburtsdatum angeben kann. Bei der Pastoraltheologie in ihrer römisch-katholischen Variante ist das der Fall. Sie wurde am 1. August 1774 als Universitätsdisziplin eingerichtet – und an ihrer Wiege stand eine Frau. Genauer gesagt, eine katholische Monarchin: Kaiserin Maria Theresia von Österreich. Eine theologische Liebeserklärung zum Geburtstag!

Pastoraltheologie ist für mich persönlich das schönste theologische Fach der Welt. Denn sie ist nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein existenzielles Abenteuer. Sie verwickelt in einen ganzen Strudel von produktiven Kontrasten: Gott und Welt, Natur und Gnade, Menschen und Mächte, Existenz und Evangelium, Kirche und Gesellschaft. Pastoraltheolog:innen laufen permanent zwischen entsprechenden pastoralen Praxisfeldern und theologischen Diskursarchiven aus Gegenwart und Vergangenheit hin und her (lat. „dis-currere“) – sprich: sie führen im solidarisch-synodalen Mitgehen mit dem Volk Gottes (von der lokalen christlichen Jesusnachfolge bis zu Papst Franziskus in Rom) einen ‚Diskurs‘ über die potenzielle Kreativität dieser Differenz[1].

Outdoordisziplin

Dieses vergleichsweise junge Fach, das so sympathisch unbeirrt auf der Autorität von pastoralen Erfahrungen besteht, sorgt im theologischen Diskurs für die nötige Frischluft – eine wissenschaftliche ‚Outdoordisziplin‘, die nicht nur am Schreibtisch („drinnen daheim“) entsteht, sondern im Gespräch mit alltäglichen Leutetheologien[2] auch an der Hotelbar, im Supermarkt, an der Bushaltestelle oder am Küchentisch („draußen zuhause“). Sie erkundet diese explorativ, aber auch kritisch. Denn sie eröffnet zu ihren empirischen Feldwahrnehmungen immer auch Erkenntniskontraste von theologischen Archivrecherchen her. Diese ermöglichen es den Akteur:innen im pastoralen Feld, evangeliumswidrige Positionen zu kritisieren und evangeliumsgemäße Positionen zu stärken.

Pastoraltheologie ist daher etwas für multiple, theologisch mehrsprachige Persönlichkeiten, die Menschen und Bücher gleichermaßen lieben. Als fachgewordene Selbsterinnerung der Theologie an ihren konstitutiven (und nicht nur applikativen) Praxisbezug steht sie weniger für eine pastorale Anwendung des Dogmas als für dessen „Umwendung“[3] im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dabei entsteht kein undefinierbares Diskursmischmasch, sondern vielmehr ein kontrastiver Mischdiskurs, der feldbezogene Praxisdiskurse („Theorie der Praxis“) auf kreative Weise mit archivgestützten Diskurspraktiken („Praxis der Theorie“) zusammenbringt. In unterschiedlichen Mischverhältnissen und Schwerpunktsetzungen dürfte das auf alle gegenwärtigen Vertreter:innen des Fachs zutreffen.

K(lerikal) und K(olonial)

Im Jahr 2024 wird dieses faszinierende Fach nun also 250 Jahre alt. Begründet wurde es durch Kaiserin Maria Theresia, die am 1. August 1774 eine entsprechende Studienreform in Kraft setzte (Gründungsgestalt der evangelischen Praktischen Theologie war Friedrich Schleiermacher mit seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums aus dem Jahr 1811). Im politischen Wettbewerb mit Preußen benötigte sie für ihr Reich besser ausgebildete Kleriker. Dieses Ursprungsnarrativ zeigt, dass Pastoraltheologie nicht nur frisch und fromm, fröhlich und frei ist, sondern auch „k. und k.“ – und zwar nicht nur kaiserlich und königlich, sondern auch klerikal und kolonial (in wörtlichem, aber auch in übertragenem Sinn). In der Innsbrucker Jesuitenkirche steht eine kolossale Statue des guten Hirten, deren räumlicher Kontext beide Aspekte einer noch lange nicht aufgearbeiteten Schuldgeschichte des Fachs sichtbar macht: seine jahrhundertelange Verstrickung in klerikalistische Machtasymmetrien einerseits und in kolonialistische Missionsvorstellungen andererseits.

Der lange dunkle Schatten dieser symbolischen Verdichtung des Pastoralen wird heute als sexualisierte Gewalt sichtbar. Unmittelbar greifbar ist er gleich gegenüber in einer weiteren Statue. Diese zeigt einen Missionar, der in gleicher Manier wie der Hirte Jesus einen afrikanisch lesbaren Menschen wie ein unmündiges Schaf auf den Schultern trägt. Es braucht nicht das ganze Arsenal postkolonialer Theorieproduktion, um den infantilisierenden, quasi-rassistischen Klerikal-Kolonialismus dieser machtförmigen Szenerie zu erkennen: Pastoral als „paternalistische Unterdrückungsfürsorge“[4]? Die Pastoraltheologie muss sich die Frage gefallen lassen, ob ihre namengebende Hirtenmetapher (lat. „pastor“ = der Hirte) nicht eine toxische Mitgift der Fachgeschichte darstellt (siehe auch das theologisch multidisziplinäre ‚Kaleidoskop‘ in der Lebendigen Seelsorge). Das Jubiläum erfordert daher eine entschlossene Selbstaufklärung des Fachs über seine eigene Schuldgeschichte (inkl. der missbrauchsgefährdeten Hirtenmetapher im eigenen Namen).

Theoriegeschichte des Fachs

1774 hat die Pastoraltheologie mit einem theoretischen Entwurf begonnen, der erst 1776 mit der Einrichtung des weltweit ersten Lehrstuhls für Pastoraltheologie in Wien umgesetzt wurde. Diese schultheologisch-deduktive Logik von theoretischem Entwurf („principium“) und praktischer Umsetzung („applicatio“) prägte in ungebrochener Kontinuität noch Karl Rahners Neubegründung des Fachs („Selbstvollzug der Kirche“) im Umfeld des Zweitens Vatikanums. Erst mit den nachkonziliaren Versuchen einer sozialwissenschaftlich-induktiv verfahrenden Empirischen Theologie kam es zu einem wirklichen epistemischen Umbruch. Dieser wäre heute in differenztheoretisch-abduktiver Weise ins Theologische hinein zu entgrenzen (Stichwort für Insider:innen: „Grounded Theology“[5]). Postnachkonziliar kommt es damit zu „spekulativen Extrapolationen“[6] aus dem Vorgefundenen, deren schöpferische Kraft sich entsprechenden pastoraltheologischen Feldforschungen und Archivrecherchen verdankt, die in gleichintensiver Weise empirisch und theologisch arbeiten.

Die sich nicht in linear fortschreitender Diachronie , sondern in sich dynamisch durchdringender Synchronie entwickelnde Genealogie von deduktiver Schultheologie, induktiver Sozialwissenschaft und abduktiver Differenztheorie lässt sich mit der Theoriegeschichte des Fachs verbinden, die im Laufe der Zeit zu einem immer weiter werdenden Fokus[7] führte:

  • Zunächst war die Pastoraltheologie im „Dispositiv der Ewigkeit“[8] der Pianischen Ära noch als eine vormoderne Priestertheologie formatiert, die sich vor allem um die pastoralen Amtspflichten angehender Kleriker kümmerte. Diskursiver Meilenstein dieses schultheologisch-deduktiven Ansatzes war der Tabellarische Grundriß der Pastoraltheologie (1777) von Stephan Rautenstrauch.
  • Im „Dispositiv der Geschichte“[9] der Konzilsepoche wandelte sie sich zu einer modernen Kirchentheologie, in deren Zentrum der pastorale Selbstvollzug der Kirche stand. Diskursiver Meilenstein dieses Wandels im Übergang zu einer sozialwissenschaftlich-induktiven Neuformatierung des Fachs war das von Karl Rahner herausgegebene Handbuch der Pastoraltheologie (1964-1972).
  • Gegenwärtig wird Pastoraltheologie im „Dispositiv des Ereignisses“ “[10] von vielen als eine spätmoderne Erfahrungstheologie konzipiert, die von den Lebenserfahrungen heutiger Menschen ausgeht. Diskursiver Meilenstein hierfür ist das von Herbert Haslinger herausgegebene Handbuch Praktische Theologie (1999-2000), das am Übergang zu einer stärker differenztheoretisch-abduktiven Fachausrichtung steht.

Philosophisch gesprochen, geht es dabei um einen referenztheoretischen Wechsel von dem durch Rolf Zerfaß initiierten klassisch-modernen Ansatz einer Pastoraltheologie als kommunikative Handlungswissenschaft à la Jürgen Habermas hin zu spätmodern-modernekritischen Gegenwartstheorien wie sie – beispielsweise – in der French Theory eines Michel Foucault, Jacques Derrida oder Gilles Deleuze vorliegen. Pastoraltheolog:innen arbeiten heute in das Offene eines spannungsreichen Diskurses hinein, dessen immense Pluralität[11] sich in unterschiedlichsten Ansätzen[12] ausdrückt, die u.a. phänomenologische, organisationsentwicklerische, queertheoretische, schrifthermeutische, pastoralpsychologische, machtkritische, säkulartheologische etc. Theoriewerkzeuge nutzen.

Von Wien nach Berlin – und darüber hinaus

Jenseits retrospektiver Selbstmusealisierung ermöglicht das 250-Jahr-Jubiläum dem Fach Pastoraltheologie eine zukunftsgerichtete Standortbestimmung, die seine theologische Breite nicht nur empirisch abbildet, sondern auch auf kreative Weise nach vorne hin öffnet. Es wird nicht nur im deutschen Sprachraum begangen. So feierte auch die lateinamerikanische CELAM das Fachjubiläum („250 años del ingreso de la Teología pastoral al teológico“) am 28. Juni 2024 mit einem Kongress („jornada teológico-pastoral“) in Bogotá, der Akteur:innen aus dem gesamten Volk Gottes offenstand („dirigada a todo el Pueblo de Dios“).

Die Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie feiert auch. Und zwar mit einem großen Kongress, zu dem ebenfalls alle Interessierten eingeladen sind: Fachwissenschaftler:inn genauso wie Kirchenleute und andere pastoraltheologisch arbeitende Menschen. Er findet von 16. bis 18. September 2024 in Berlin statt. Die Performanz dieses Ortes erzählt eine eigene Geschichte. Gegründet im barocken Wien, kommt das Fach damit in der struppigen, aber faszinierenden Lebenswirklichkeit einer ebenso multireligiösen wie multisäkularen Großstadt an (so wie es auch das heutige Wien ist, wo am 25./26. November 2024 ebenfalls gefeiert wird). Postkolonial-feministische Befreiungstheologie

Höhepunkt des Kongresses ist ein Festakt, für den als Hauptrednerin die südafrikanische Theologin Nontando Hadebe gewonnen werden konnte (ein weiterer Hauptredner ist der Soziologe Heinz Bude, der eine gegenwartskompatible „Theorie des Dazwischen“ problematisiert). Sie ist eine ausgewiesene Expertin postkolonial-feministischer Befreiungstheologie. Ihre Einladung steht für die marginalisierungssensible Internationalisierung des bislang noch stark binnenfokussierten pastoraltheologischen Fachdiskurses. Es wurde bewusst eine nichtweiße Frau aus dem globalen Süden eingeladen, welche die kulturellen, sprachlichen und theologischen Engführungen des Fachs zukunftgerichtet auf globale, englischsprachige und postkolonial-feministische Fragestellungen hin weitet.

Dieser Diskurs(er)öffnung versucht der Kongress auch in seinem Redner:innentableau zu entsprechen (zum Beispiel mit Blick auf eine geschlechtergerechte Parität von männlich bzw. weiblich gelesenen Menschen). Zu Wort kommen katholische Bischöfe und universitäre Pastoraltheologi:innen, prominente Soziologen und kirchliche Missbrauchsüberlebende, ausgetretene Journalistinnen und migrationshintergründige Künstler, queere Synodalpersonen und grüne Polizeipräsidenten, wissenschaftliche Ukrainekennerinnen und systematische Theologinnen, evangelische Homiletikerinnen und muslimische Religionspädagoginnen, diözesane Seelsorgeamtsleiterinnen und engagierte Nachwuchstheolog:innen. Aber auch diese fachliche Diversität hat ihre Grenzen: So ist es nicht gelungen, Vertreter:innen aller pastoraltheologischen Richtungen für den Kongress zu gewinnen – auch das gehört mit zur Wirklichkeit dieses Jubiläums.

Theologie im Dazwischen

Leitmotiv des Kongresses ist das Dazwischen – ein theologieproduktiver Ort jenseits klassischer Binäritäten, an welchem die Ambivalenzen heutigen Lebens in der „Schwebe“[13] bleiben und zugleich eine komplexitätstaugliche Praxis ermöglichen: Optionen aus der Kraft des Dazwischen. Das führt zu anarchisch-freien ‚Zwischenexistenzen‘ wie jener des italienischen Linkskatholiken Ignazio Silone, der schon in den 1960er Jahren bekannte, er sei ein Christ ohne Kirche und ein Sozialist ohne Partei. Oder auch zu aktuellen Buchtiteln wie „Nach der Geduld und jenseits von egal“ (Hans-Joachim Sander über die kirchliche Missbrauchskrise).

Pastoraltheologie ist seit 250 Jahren zwischendrin. Historisch: zwischen Monarchie und Aufklärung, zwischen Neuscholastik und Konzilstheologie, zwischen Kritischer Theorie und Spätmoderne. Theoretisch: zwischen Anwendung und Entdeckung, zwischen Empirie und Theologie, zwischen Diskursen und Praktiken. Und praktisch: zwischen Gott und Mensch, zwischen Territorial- und Kategorialpastoral, zwischen Analogem und Digitalem. Vor diesem Hintergrund inszeniert der Berliner Jubiläumskongress ein Gespräch mit gesellschaftlich-kirchlichen Expert:innen des Dazwischen (Themen: Geschlecht, Ökologie, Kirchenaustritt, Ukrainekrieg, Missbrauch, Migration). Und er eröffnet diskursive Zwischenräume, in denen das theologische ‚Dazwischensein‘ auf mehrdimensionale Weise ausgelotet wird: intergenerationell, interkontinental, interdisziplinär, interkonfessionell, interreligiös und in einer künstlerischen Performance sogar interaktiv.

Wenn die Moderne vor die Dichotomien eines kontradiktorischen „Entweder – oder“ stellt und die Postmoderne vor die Beliebigkeiten eines spannungsarmen „Sowohl – als auch“, dann eröffnet die Spätmoderne den Zwischenraum eines prozessoffenen „Weder – noch“: Dazwischen als dritter Raum einer permanenten kritischen Selbstüberschreitung des Diskurses. Damit stehen wir heute, in den ‚Zwanziger Jahren‘ des 21. Jahrhunderts, in einer ähnlichen Zwischenzeit wie die Theolog:innen während der Zwischenkriegszeit der ‚Zwanziger Jahre‘ des 20. Jahrhunderts. Mitten im ‚Dazwischen‘ dieser gesellschaftlichen Zeitenwende, die im „Höhenrausch“[14] der Goldenen Zwanziger zugleich eine politische Wendezeit war, bekannte Friedrich Gogarten in seinem Essay Zwischen den Zeiten (1920):

„Das ist das Schicksal unserer Generation, dass wir zwischen den Zeiten stehen. Wir gehörten nie zu der Zeit, die heute zu Ende geht. Ob wir je zu der Zeit gehören werden, die kommen wird? […] So stehen wir mitten dazwischen. In einem leeren Raum. […] Der Raum wurde frei für das Fragen nach Gott. Endlich.“[15]

Dazwischen exemplarisch

Die existenzielle Brisanz dieses ‚Dazwischen‘ prägt nicht nur die römisch-katholische Kirche vom Pfarrgemeinderat bis hin zu den Kurienbeamten – sie bestimmt auch unser allgemeines Weltgefühl. Armin Nassehi berichtet von einem Streitgespräch mit einem Akademiker, der behauptete, das Hamas-Massaker des 7. Oktober 2023 sei eine Inszenierung des israelischen Geheimdienstes. Eine für ihn absolut geltende Wahrheit, die kein diskursives ‚Dazwischen‘ kannte. Nassehi brach das Gespräch ab, ohne dass es zu einer Verständigung gekommen wäre. Rückblickend verwendet er eine Analogie aus der „Sprache der Elektriker“[16], um die Argumentation seines Gegenübers zu profilieren, dessen „Sinnverschaltungen nicht seriell, sondern parallel“ angeordnet gewesen seien:

„Für meinen Gesprächspartner waren seine Sätze über den Angriff der Hamas-Terroristen Sätze, an die man nicht mehr anschließen konnte, weil damit alles klar war. Sie traten auf als Kausalkette, die Argumente waren in Serie geschaltet, die Argumentationskette so klar, dass es keine Abweichung gibt. Deshalb sind solche Leute – wir kennen es auch aus den Auseinandersetzung über die Pandemie, über den Holocaust, aus der Flüchtlingskrise, über den Klimawandel usw. – auch nicht aufklärbar.“

Das Gegenteil dieser Position ist eine parallele Verschaltung von gleichzeitig wahren Aussagen in einem ‚Zwischenraum‘ mit vielfältig offenen Anschlussmöglichkeiten – eine vermeintlich schwache Position[17], welche der ungleich robuster wirkenden Stärke einer seriellen Verschaltung von Aussagen, die in kausaler Linearität angeordnet sind, in asymmetrischer Weise entgegensteht:

„Solche Positionen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre andere Seite nicht einfach eine andere Seite mit einer anderen Sicherheit ist. […] Die andere Seite der Unterscheidung ist, dass […] das Gegenteil des offenkundigen Unsinns, keineswegs alle Fragen beantwortet hat. Aus der Anerkennung des Hamas-Terrors […] ergibt sich gerade keine Sicherheit, sondern die offene Frage danach, was die angemessene Reaktion darauf ist. Die jetzigen Zerstörungen in Gaza sind keineswegs eine notwendige, also in serieller Kausalität unvermeidliche Folge des Terrorgeschehens, sondern eine kontingente Entwicklung. Man kann sogar die Strategie des israelischen Militärs kritisieren, ohne das Massaker zu leugnen – mein Gesprächspartner konnte es nicht.“

Präsenz Gottes als Kontingenzöffnung

Im ‚Zwischenraum‘ dieser uneindeutigen Gegenwart ergibt sich für die „Krisenwissenschaft“[18] der Pastoraltheologie die Aufgabe einer theologischen „Kontingenzöffnung“[19], die ambivalenzbewusst und dilemmakompetent Handlungsräume öffnet („Es könnte auch ganz anders sein“) sowie identitäre, autoritäre und totalitäre Positionen in Gesellschaft und Kirche theologisch kontert. Noch einmal Nassehi:

„Erfahrungen werden dann zu Krisenerfahrungen, wenn man nicht eindeutig weiß, was zu tun ist, wenn routinisierte Muster fehlen, wenn die ohnehin unbekannte Zukunft noch unbekannter erscheint, wenn man nicht aushalten kann, dass Erwartungen auf eine zu offene Situation verweisen. Die Gegenreaktion besteht dann darin, zu klare Sätze, zu eindeutige Urteile, zu sicheres Wissen zu verwenden – und damit offene Anschlüsse zu vermeiden. Mein Gesprächspartner jedenfalls hat es geradezu lehrbuchhaft vorgeführt, wie riskant es am Ende für Viele ist, Uneindeutigkeiten auszuhalten […].“

Fast auf den Tag genau vor 25 Jahren hatte Rolf Zerfaß kirchliche Erfahrungen des Scheiterns von vereindeutigenden Weltzugängen in seiner Würzburger Abschiedsvorlesung in die biblische Geschichte des Volkes Gottes eingeordnet. Dieses hatte im Babylonischen Exil alle seine bisherigen Sicherheiten verloren und musste die Präsenz Gottes im uneindeutigen ‚Dazwischen‘ der Diaspora ganz neu suchen und dabei auch zu einem neuen Credo finden – eine pastoraltheologische Erinnerung an die Zukunft nicht nur von Theologie und Kirche, sondern auch von Geschichte und Gesellschaft in ungewissen Zeiten:

„Damit bekommt das alte Bekenntnis ,,Gott wohnt in unserer Mitte“ einen neuen Sinn: Es bedeutet nicht mehr: Gott wohnt in unserem Lande oder in unserem Tempel; es heißt jetzt: Gott wohnt in uns, zwischen uns, Gott wird gegenwärtig in dem, was wir tun.“[20]

[1] Vgl. Christian Bauer: Konstellative Pastoraltheologie. Erkundungen zwischen Diskursarchiven und Praxisfeldern, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2017.

[2] Vgl. Christian Bauer: Leutetheologie – ein theologischer Ort? Pastoraltheologische Angebote zur epistemischen Klärung, in: Johannes Grössl, Ulrich Riegel (Hg.): Die Bedeutung von Gläubigen für die Theologie, Stuttgart 2023, 27-46 sowie Monika Kling-Witzenhausen: Was bewegt Suchende? Leutetheologien empirisch-theologisch untersucht, Stuttgart 2020.

[3] Vgl. Johann Sebastian Drey: Kurze Einleitung in das Studium der Theologie mit Rücksicht auf den wissenschaftlichen Standpunkt und das katholische System [= unveränderter reprografischer Nachdruck], Darmstadt 1971, 175f.

[4] Ute Leimgruber: Paternalistische Unterdrückungsfürsorge, in: Lebendige Seelsorge (2022), 45-49.

[5] Vgl. dazu demnächst die Habilitationsschrift von Teresa Schweighofer.

[6] Steven Shaviro: Discognition, London 2016, 11; 97.

[7] Vgl. Herbert Haslinger: Wissenschaftstheoretische Wegmarken. Selbstverständnisformeln der Praktischen Theologie, in: Hartmut Heidenreich (Hg.): ‚… Es geht um den Menschen’. Aspekte einer biographischen Praktischen Theologie [FS Stefan Knobloch], Bochum 1997, 333-354.

[8] Vgl. Michael Schüßler: Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013, 62.

[9] Schüßler: Mit Gott neu beginnen, 74.

[10] Schüßler: Mit Gott neu beginnen, 140.

[11] Vgl. expl. die Ausgaben 2000/2 und 2015/2 der Pastoraltheologischen Informationen („Pluralität im eigenen Haus“ bzw. „Wissenschaftstheorie“) bzw. 2023/2 der Zeitschrift für Pastoraltheologie („Referenztheorien der Pastoraltheologie“) sowie die Ausgabe 2011/1 der Lebendigen Seelsorge („Next generation“) und die Ausgabe 2016/2 der Salzburger Theologischen Zeitschrift („Pastoraltheologie der Gegenwart“).

[12] Vgl. als aktuell wohl markanteste Fachdifferenz die zwischen Matthias Sellmann und Michael Schüßler ausgetragene Kontroverse um die kirchliche Systemnähe/Systemdistanz der Pastoraltheologie in der Lebendigen Seelsorge 2024-2 („250 Jahre Pastoraltheologie“).

[13] Vgl. Ottmar Fuchs: Momente einer Mystik der Schwebe. Leben in Zeiten des Ungewissen, Ostfildern 2023.

[14] Vgl. Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, Berlin 1922.

[15] Friedrich Gogarten: Zwischen den Zeiten, in: Christliche Welt (1920), 374-378, 374.

[16] Dieses sowie alle weiteren nicht eigens ausgewiesenen Zitate aus Armin Nassehi: Montagsblock/261, online zugänglich auf: https://kursbuch.online/montagsblock-261/?fbclid=IwAR1UGkYOAI8fmgRJQRn_bAcRNUo-4P1CT-dro9RQPZNflOnpOHqjixj9oDU.

[17] Vgl. John Caputo: The Weakness of God. A theology of the event, Bloomington 2006.

[18] Rainer Bucher: Wer braucht Pastoraltheologie wozu? Zu den aktuellen Konstitutionsbedingungen eines Krisenfachs, in Ders. (Hg.): Theologie in den Kontrasten der Zukunft. Perspektiven des theologischen Diskurses, Graz-Wien-Köln 2001, 181-197, 182.

[19] Andreas Reckwitz: Gesellschaftstheorie als Werkzeug, in: Ders./Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Berlin 2021, 23-150, 132.

[20] Rolf Zerfaß: Das Volk Gottes auf dem Weg in die Minderheit? Zur pastoralen Aktualität einer zentralen Erfahrung Israels, in: Katechetische Blätter 125 (2000), 42-52, 45.

Bildquellen: Wikipedia (KI-verfremdet), Christian Bauer

Erstveröffentlichung: Feinschwarz.net (1. August 2024)