13 Gebote: Theologiestudium

I. Buchlektüre

Lesen Sie – digital oder analog – zuerst das Inhaltsverzeichnis eines Buches. Dann erfassen Sie auf den ersten Blick dessen Architektur. So verlieren Sie sich auch nicht im Durchgang durch das Gedankengebäude. Lesen Sie dann zunächst Scharnierpassagen wie Einführung, Überleitungen und Schluss. Sie bieten meist nützliche Zusammenfassungen. Danach ‚scannen’ Sie die Einzelkapitel nach von Ihnen gesuchten Schlüsselworten ab („Querlesen“). Wenn Sie ein optischer Arbeitstyp sind, dürfte Ihnen das Suchen und Finden leicht fallen. Markieren Sie, was auch immer Ihnen wichtig erscheint. Dann werden Sie in der Flut der Buchstaben nicht ertrinken. Und Sie können jederzeit auf Entdecktes zurückgreifen. Notieren Sie sich unbedingt entsprechende Einfälle.

II. Literaturgebrauch

Wenn Sie mit theologischer Literatur arbeiten (ganz egal, ob digital oder analog), dann beachten Sie folgende Regeln: Primärquellen gehen vor Sekundärliteratur. Und Originale vor Übersetzungen. Lesen Sie fremdsprachige Autor:innen am besten immer im Original. Achten Sie bei der Auswahl von Literatur auf Exemplarität des Inhalts, Klarheit des Standpunkts, Originalität der Gedankenführung und Prominenz des Publikationsortes. Letzteres bürgt für die Solidität des Inhalts, selbst wenn Sie den/die Autor:in nicht kennen. Und gehen Sie auch außerhalb der angegebenen Pflichtlektüren auf eigene Entdeckungsreisen. Lesen Sie, was immer Sie gerade interessiert. Ohne Angst vor großen Namen und egal, wie abseitig es auch zunächst erscheinen mag. Testen Sie die Leistungsfähigkeit der verschiedensten Theorien. Denn es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.

III. Prüfungsvorbereitung

Theologie muss nützlich sein. Denn sie ist kein Selbstzweck. Auch sie gehört zu jenen Dingen, die einmal im Reich Gottes aufgehen werden. Fallen Sie daher auch in Prüfungszeiten nicht aus Ihrer Biographie heraus. Gehen Sie ins Kino, machen Sie Sport und treffen Sie Freund:innen. Danach werden Sie umso leichter lernen. Suchen Sie sich eine Lerngruppe, in der man auch über das Prüfungsrelevante hinaus diskutieren kann. Sie werden theologische Sternstunden erleben. Und lernen Sie aus der Mitte heraus. Fassen Sie den argumentativen Kern des zu lernenden Stoffs zu einer Graphik zusammen. Eine ganze theologische Vorlesung muss auf ein DIN A 4-Papier passen. Dann haben Sie den Inhalt wirklich verstanden. Und Sie werden dann davon auch nicht erdrückt. Ist eine solche Reduktion nicht möglich, so liegen sehr wahrscheinlich nicht Sie falsch, sondern vermutlich der/die jeweilige Professor:in. Denn jede schlüssige Argumentation lässt sich auf wenige, aber wesentliche Strukturen reduzieren.

IV. Prioritätensetzung

Theologie hat dem Leben zu dienen. Also auch Ihrem Leben. Vergessen Sie daher auch im Studium nie, was wichtig ist: „Was wirklich zählt, sind das Leben und die Freunde und diese ungerechte Welt, die wir ändern müssen“, so der Architekt Oscar Niemeyer. Oder der Film Reality bites: „Was brauchen wir denn schon? Einen Becher Kaffee, eine Packung Zigaretten und jemanden zum reden.“ In dieselbe Richtung fragt Fulbert Steffensky, der ehemalige Benediktiner und Witwer von Dorothee Sölle: „Wo gehören wir hin? Was lieben wir und wem sind wir verpflichtet?“ All das sind existentielle Grundfragen, die auch unmittelbar zum Studium gehören. Denn es gilt ja mit Rolf Zerfaß: „Das Studium ist nicht eine Art Wartesaal für das eigentliche Leben, sondern selbst ein Stück Leben.“ Auch die Theologie dient der Sache Jesu: dass Leben gelingt. Dass Menschen ihr Haupt erheben. Dass sie sich aufrichten und aufrecht gehen lernen, dass sie zu sich und zueinander finden – und sich ihr Leben zum Guten wendet.

V. Standpunktfindung

Suchen Sie sich theologische Lehrer:innen. Und zwar solche, die nicht nur möchten, dass man ihnen nach dem Mund redet, sondern die Sie zu Eigenem inspirieren. Solche, die Sie in Ihre eigene Sprache finden lassen. Denn Theologie ist nicht für Papageien, die ihre Professor:innen einfach nur unfallfrei nachsprechen. Fragen Sie sich daher immer, ob ein theologischer Ansatz Ihnen zum Finden eines eigene Standpunkts verhilft. Wenn nicht, dann können Sie guten Gewissens darauf verzichten. Gute Theolog:innen erkennt man daran, dass sie auch selbst eigene Sprache sprechen. Und schlechte, dass man ihre Texte ohne Namensangabe nicht wiedererkennen würde. Gehen Sie auch mit diesen ‚Zehn Geboten’ für das Theologiestudium in aller Freiheit um. Nehmen Sie nichts als gegeben hin. Lassen Sie nicht so schnell locker und haken Sie nach. Geben Sie sich nicht mit schnellen und einfachen Antworten zufrieden. Bewerben Sie sich um Stipendien. Und backen Sie nicht von vornherein zu kleine Brötchen.

VI. Konfliktfähigkeit

Achten Sie stets darauf, welche Quellen jemand aufgreift, wo seine/ihre Gegner:innen stehen und was er/sie gerade nicht sagt. Ein theologischer Standpunkt lässt sich gut von seinen Gegenpositionen her begreifen. Haben Sie Mut zu Konfrontation und Differenzen. Keine falschen Harmonien. Theologie lebt vom Streit um die Wahrheit – und in diesem gibt es keine kontextenthobene Metaposition. Treffen Sie Optionen und treten Sie auch dafür ein: argumentativ und streitbar. Reden Sie lieber miteinander als übereinander. Und unterscheiden Sie dabei stets Sach- und Beziehungsebene (ohne sie zu trennen). Man kann verschiedener Meinung sein und trotzdem gemeinsam katholisch. Oder gerade deshalb. Theologie ist auch in diesem Sinne synodal (von griech. syn-odos = der gemeinsame Weg). Suchen Sie sich daher bewusst auch theologisch andersdenkende Gesprächspartner:innen. Und unterstellen Sie, dass auch diese etwas von Gott verstanden haben. Notfalls einigen Sie sich wie Lot und Abraham: „Zwischen mir und dir soll es keinen Streit geben – wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir. Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts. Wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links.“ (Gen 13,8-9).

VII. Spiritualitätsbezug

Theologie ist auch ein spirituelles Abenteuer. M.-Dominique Chenu definiert sie von ihrem geistlichen Mutterboden her: „Theologie ist eine Spiritualität, die ihrer religiösen Erfahrung gemäße Vernunftwerkzeuge gefunden hat.“ Trinken Sie auch im Studium aus Ihren „eigenen Quellen“ (Bernhard v. Clairvaux), nehmen Sie es als eine geistliche Herausforderung. Manresa kann auch am Aasee liegen. Gönnen Sie sich regelmäßig Auszeiten. Gehen Sie auf Exerzitien, die mit einem Ortswechsel verbunden sind. Und suchen Sie sich eine:n geistliche:n Begleiter:in. Sammeln Sie Sätze aus Schrift und Tradition, die Sie sich nicht nur theologisch angelesen, sondern auch ‚anerlebt’ haben. Die Summe dieser Sätze bildet Ihr Evangelium. Folgen Sie dem Motto von Frère Roger Schutz: „Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast, und wenn es noch so wenig ist – aber lebe es.“ Experimentieren Sie auch mit geistlichen Dingen in zwangloser Freiheit: „Alles prüfe der Mensch, dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern, und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will.“ (Friedrich Hölderlin). Gehen Sie dabei auch Risiken ein: „Alles ist mir erlaubt, nichts aber soll Macht über mich gewinnen.“ (1 Kor 6,12). Denn es gilt ja schließlich: „Der Bach Gottes ist reichlich gefüllt“ (Ps 65,10).

VIII. Erfahrungshaltigkeit

Befragen Sie die großen Erzählungen der Theologie stets von den kleinen Geschichten Ihrer eigenen Erfahrung her. Erfahrungsnahe Theologie entsteht in „lebendiger Tuchfühlung“ (M.-Dominique Chenu): „Ich möchte nicht wissen, was andere vom Glauben wissen, sondern, wofür sie leben. Ich möchte mit ihnen gehen und sehen, wo sie wohnen, von ihrem Brot essen und von ihrem Fisch.“ (Markus Grimm). Suchen Sie Erfahrungen im Sinne Michel Foucaults: „Eine Erfahrung ist etwas, woraus ich verändert hervorgehe.“ Erfahrungen sind ein Weg möglicher Offenbarung: „Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichten erzählt.“ (Edward Schillebeeckx). Und beherzigen Sie die folgenden Regeln von Rolf Zerfaß für den Umgang mit „christlichen Haupt- und Staatsbegriffen“: „Frage bei jedem theologischen Begriff: Welche Erfahrung hat zu diesem Begriff geführt? Welche Geschichte hat in ihm ihren Niederschlag gefunden? Und dann erzähle diese Geschichte und beschreibe diese Erfahrung. Wenn Du merkst, dass Du jetzt für einen Gedanken sehr viel mehr Platz brauchst, soverkleinere Dein Thema. Wer erfahrungsbezogen spricht, wird in seinen Themen bescheidener, und diese Bescheidenheit ist ein wichtiges Kriterium, dass er von etwas Wesentlichem redet.“

IX. Lebenslust

Genießen Sie das Spiel des Lebens im Plural seiner Züge. Leisten Sie sich eine nichtzynische Solidarität mit dem Lebensgefühl unserer Zeit. Lesen Sie mehr als nur eine Tageszeitung. Folgen Sie mehr als nur einem/einer Influecer:in. Und gehen Sie ins Kino, in Museen und Theater. Ins Konzert und ins Stadion. In Bars, auf Flohmärkte und ins Fitnesstudio. Fühlen Sie den Puls der Gegenwart. Und stellen Sie sich immer wieder die umgekehrte IKEA-Frage: Lebst Du noch oder wohnst Du schon? Hören Sie auf Freund:innen, wenn Sie in der Gefahr sind, die Melodie Ihres Lebens zu vergessen. Suchen Sie das kleine Glück in dieser Zeit. Denn wir haben nur dieses eine Leben. Leben Sie daher auch in der Nachfolge Jesu einmal einfach nur so „wie der Wind gerade kommt“ (Mehmet Scholl). Suchen sie das, was unter Milan Kunderas Definition von Abenteuer als „Erregung des als Freiheit begriffenen Lebens“ fällt. Nehmen Sie dabei auch im Einsatz für andere beherzt „Neuland unter den Pflug.“ (Hos 10,12). Denn, so Astrid Lindgren in Die Brüder Löwenherz: „Manchmal muss man etwas Gefährliches tun, weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck.“ Und haben Sie bei alldem den Mut zum eigenen Tempo. Wege entstehen im Gehen. Auf einem nächtlichen Waldweg sieht man immer nur mehr soviel im Schein der Taschenlampe, wie man bereit ist, auf ihm weiterzugehen.

X. Methodenkompetenz

Wissenschaft bildet zu eigenständiger Urteilskraft. Das wesentliche Ziel eines Theologiestudiums besteht daher in der Fähigkeit, später in der Pfarremeinde, in der Schule oder anderswo einmal eine eigene kleine ‚Kontextuelle Theologie’ mit lokaler Reichweite betreiben zu können – in der potenziell kreativen Differenz von Praxisfeldern und Diskursarchiven. Man sollte Theologie daher nicht nur passiv anwenden, sondern von ihren Quellen her auch selbst entwickeln können: situationsgerecht und nachvollziehbar. Es geht im Studium daher vor allem um die Fähigkeit zur eigenständigen Deutung der „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ (GS 4). Erpoben Sie diese Kompetenz nicht nur im universitären Bereich. Schauen Sie auch einmal nach links und rechts. Gehen Sie ins Ausland. Machen Sie Praktika in kirchenfremden Bereichen. Schnuppern Sie in alle möglichen Felder hinein und gehen Sie der Witterung nach, die Sie dort aufnehmen. Folgen Sie dem ignatianischen ‚Agere contra’ und suchen Sie sich dabei auch das, was Sie – vielleicht: noch – nicht sind und haben. Nur so kann man wirklich etwas lernen. Dietrich Bonhoeffer: „Wo der cantus firmus klar und deutlich ist, kann sich der Kontrapunkt so gewaltig entfalten wie nur möglich.“

XI. Außenwelt

Thomas von Aquin zufolge ist vom Geheimnis Gottes her betrachtet prinzipiell alles ein potentieller Ort der Theologie. Selbst Leonardo Boffs berühmter „Zigarettenstummel“. Gottes Spuren finden sich auch auf profanem Boden: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.“ (Joseph Beuys). Denn, so Bonhoeffer: „Ich fürchte, dass die Christen, die nur mit einem Bein auf der Erde zu stehen wagen, auch nur mit einem Bein im Himmel stehen.“ Oder mit Elmar Klinger positiv gewendet: „Christen sind Menschen, die an den Himmel glauben und die Erde lieben.“ Suchen Sie Gott auch „außerhalb der Tore“ (Hebr 13,12). Denn seine Gnade wirkt auch außerhalb der Kirchenmauern. Haben Sie keine Angst: auch fremder Boden trägt. Und nur echte Differenzen sind auch wirklich kreativ. Vermeiden Sie jede Form von „theologischer Binnenschifffahrt“ (Rolf Zerfaß) und borniertem Kirchenklüngel. Erwerben Sie sich lieber eine kulturelle Mehrsprachigkeit, die es Ihnen später ermöglicht, die verschiedensten Häfen des Lebens anzulaufen. Intellektualität ist die „Fähigkeit, die Wirklichkeit aus mehr als einer Perspektive zugleich betrachten zu können“ (Rainer Bucher). Bleiben Sie neugierig. Schauen Sie sich auch einmal in anderen Fakultäten um. Gehen Sie auch dort in Vorlesungen und Seminare. Pflegen Sie Freundschaften zu Nichttheolog:innen und suchen Sie sich eine WG mit kirchenfernen Mitbewohner:innen. Reden Sie von Ihrem Glauben nur dann, wenn Sie gefragt werden – aber leben Sie so, dass man Sie fragt.

XII. Selbstüberschreitung

Gott ist der tiefste Grund unserer Kraft und der weiteste Horizont unserer Sehnsucht. Theologie ist daher ein Grenzprojekt der menschlichen Sprache. Sie versucht von etwas zu sprechen, wovon man weder reden noch schweigen kann: von Gott, dem „Geheimnis der Welt“ (Eberhard Jüngel). Ein Rätsel kann man lösen, ein Geheimnis aber muss offen bleiben. Alle großen Theolog:innen wussten daher: Deus semper maior. Augustinus sagte: Si cepisti, non est Deus – wenn du etwas sicher verstanden zu haben meinst, dann ist es mit Sicherheit nicht Gott. Anselm von Canterbury begriff diesen als jenes unendiche Geheimnis, „über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“. Oder Thomas von Aquin, der die gewaltige Diskurskathedrale seiner Summa theologica nach einer mystischen Erfahrung nicht mehr abschließen wollte: „Es ist die äußerste Möglichkeit  der menschlichen Erkenntnis von Gott, dass der Mensch weiß, dass er von Gott nichts weiß – insofern er erkennt, dass das, was Gott ist, alles das überschreitet, was wir von ihm erkennen.“ Dem ist nichts weiteres mehr hinzuzufügen – außer abschließend:

XIII. Gottesfurcht

Bewahren Sie sich bei allem Erkenntnisdrang stets einen letzten Respekt vor dem Geheimnis Gottes und des Menschen. Lassen Sie deren unausschöpfliche Mysterien größer sein als die Grenzen von Theologie und Kirche. Wegweiser für ein entsprechendes Studium sind die folgenden Worte der beiden wohl wichtigsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Die letzten öffentlichen Worte Karl Rahners: „Wir reden von Gott. Aber bei diesem Reden vergessen wir dann meistens, dass wir unsere Aussagen immer auch hineinfallen lassen müssen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber. Wie sehr klingen unsere Aussagen von den Kathedern und Kanzeln so, dass man nicht gerade deutlich merkt, sie seien durchzittert von der letzten kreatürlichen Bescheidenheit, die weiß, dass alles Reden nur der letzte Augenblick vor jenem seligen Verstummen sein kann.“ Und die Worte des fast erblindeten 85-jährigen M.-Dominique Chenu: „Ich muss gestehen, dass ich mich heute ein wenig so wie ein Mensch in einem Tunnel fühle, der nur mit Mühe ein kleines Licht erkennen kann und sich eine lange Wand entlang tastet. So als ob dies das Geheimnis des Menschen, das ich sehr stark empfinde, in mir das Mysterium Gottes größer werden lässt.“